Für sich sein

“Ich bin allein, aber nicht einsam” – sagt die 52jährige Single, gut eingebunden in Freundeskreis und Chor. Eine Ehe hat sie hinter sich, in der sie sich einsamer fühlte als heute. Auch in einer Familie können Menschen einsam sein. Wenn die Beziehungen oberflächlich oder von Abwertung geprägt sind, kann man unter Menschen vereinsamen. Trennung führt zu Einsamkeit, Einsamkeit führt zu  Trennung.

Der einsame Cowboy, der kurz vor dem Abspann in den Abendhimmel reitet, ist eine genauso romantisierte Figur wie der Mönch in seiner Klosterzelle oder der Alm-Öhi in den Bergen. Meist lieben gestresste Städter solche Vorstellungen von einem Einsiedlertum, bei der Menschen ganz bei sich sind. Hape Kerkeling machte als Pilger auf dem Jakobsweg auch ganz allein sein Ding.

Es stimmt ja: für sich zu sein, kann herrlich sein. Und wer das gar nicht kann, ist auch für seine Mitmenschen manchmal schwer erträglich. Menschen brauchen belastbare Beziehungen. Manchen reichen wenige verlässliche Beziehungen. Aber ziemlich traurig ist es, wenn jemand isoliert lebt und am Ende der Pfarrer allein am Grabe betet.

„Wende dich zu mir, denn ich bin einsam“ – dieses Gebet aus Psalm 25,16 käme vielen nicht einmal über die Lippen. Wer sagt schon von sich, einsam zu sein? Das ist schambesetzt. Als wäre man unverträglich und persönlich gescheitert. Vor allem: selbst schuld! Andere raten zu  schneller Selbstoptimierung: „Such dir ein Hobby, ein Haustier, ein Ehrenamt.“ Wenn es denn so einfach wäre!

Einsamkeit hat mit Ohnmacht zu tun. Nicht mehr einsam sein zu wollen, reicht eben nicht. Man muss selbst etwas tun, aber andere können das erschweren. Für Einsamkeit braucht es mindestens zwei. Meist sind Mitmenschen an Vereinsamung beteiligt. Ich denke an das Kind, über das andere spotten, den Teenager, der irgendwie nicht angesagt ist, die Studienanfängerin in der neuen Stadt, den Migranten ohne Deutschkenntnisse, den Alleinerziehenden, die Dauerpendlerin, den erfolglosen Kreativschaffenden, die überarbeitete Chefin, häuslich Pflegende, Heimbewohner, die auch unabhängig von Corona keinen Besuch empfangen, das seelisch erschöpfte Flutopfer – ihre Lebensgeschichten sind individuell. Aber Einzelne können nicht immer steuern, was zu Einsamkeit führen kann: Krankheit und Behinderung, schlechte Infrastruktur, weite Wege, Druck und Armut.

Es ist zuweilen unmöglich, in bestehende Netzwerke hineinzukommen. Einsame Menschen erleben es so, als wären ja schon alle befreundet. Es braucht Kraft, sich anzuschließen. Manchmal fehlt genau diese Kraft. Daher sollte jede authentische Gemeinschaft aktiv zu sich einladen und eine Willkommenskultur pflegen.

Das Risiko, still zu vereinsamen, bringen normale Lebensereignisse mit sich: der Schulabschluss, der Beginn von Ausbildung, Studium oder Job in einer neuen Stadt, dann der Verlust des Partners oder des Arbeitsplatzes. Manches davon sind bekannte Anlässe für eine persönliche kirchliche Segnung: Schulanfang oder -abschluss, Ehe und Tod. Ich könnte mir noch viele weitere Anlässe vorstellen, Übergänge und Abschiede: „Sei gesegnet in deiner Situation, denn du bist Teil einer Gemeinschaft der von Gott Gesehenen. Gott gibt dich nie auf.“ 

Der Glaube an Jesus Christus trägt durch einsame Zeiten. Sein Kreuz ist Sinnbild für Ohnmacht und Einsamkeit. Es steht zugleich für die Gemeinschaft mit Gott und unter denen, die Einsamkeit und Trennung hinter sich lassen. Paradoxerweise hilft Einsamen das Vertrauen zu Jesus, der selbst Einsamkeit durchlitten hat. Es ist eine Solidargemeinschaft, die trägt, tröstet und Kraft gibt.

Text: Pfarrer Christof Bleckmann (Andacht im Solinger Tageblatt, 8.7.2022), Foto: Wodika / Der Gemeindebrief

Predigt von Pfarrer Thomas Förster zu: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“

Gehalten im Gottesdienst am 03.07.2022, Bibelzitat aus Johannes 14, 6

Die Gnade unsers Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

Liebe Schwestern und Brüder,

das Wort Jesu, das im Mittelpunkt dieses Gottesdienstes stehen soll, hat in meiner theologischen Entwicklung eine besondere Rolle gespielt:

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Es ist das sechste der so genannten „Ich bin-Worte“, die das Johannesevangelium von Jesus überliefert hat.

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Als junger Theologiestudent hat mich dieses Wort besonders umgetrieben. Denn: Mir lag doch besonders das Ergehen der jüdischen Menschen am Herzen. Schon als Jugendlicher hatte ich mich intensiv mit der Shoah, dem monströsen Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands an den jüdischen Menschen, auseinandergesetzt. Und ich spürte daher eine besondere Sympathie und eine besondere Verantwortung für eine Atmosphäre, in der jüdische Menschen nicht mehr ausgegrenzt werden. Und eben da bereitete mir unser heutiges Jesus-Wort erhebliches Kopfzerbrechen. Denn der jüdische Glaube kannte ja ausdrücklich Jesus Christus als den Weg, als die Wahrheit, als das Leben und als einzigen Weg zu Gott nicht an. Hieß das nicht auch, so fragte ich mich, dass jüdische Menschen auch hier ausgegrenzt sind vom rechten Weg zu Gott? Ausgegrenzt vom Heil? Und bedeutete die besondere Verantwortung, die ich für sie spürte, nicht, sie von ihrem vermeintlich falschen Weg abzubringen? Sie zu gewinnen für den Weg Jesu, für den christlichen Glauben, dass der Messias schon da war? Und dass es dieser Jesus, der gekreuzigte und auferstandene, ist, auf dessen Ankunft wir warten? Aber andererseits: War das nicht gerade die Geringschätzung des jüdischen Glaubens, die es nie wieder geben sollte? Müsste das zu Ende gedacht nicht bedeuten, dass um der Menschen selbst und um ihres Heils willen aus Jüdinnen und Juden Christinnen und Christen werden sollten? Aber durfte ich so überhaupt denken – im Angesicht der Shoah?

Quelle: www.gemeindebrief.de

Liebe Schwestern und Brüder,

das war Ende der 1980er Jahre. Ich war junger Theologiestudent. Und ich weiß noch, wie sehr mich diese Fragen damals umgetrieben haben. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Dieses Ich bin-Wort Jesu war zu einer riesigen Herausforderung geworden auf meinem Weg als junger Theologe. Das ist jetzt mehr als 30 Jahre her. Aber die grundsätzliche Frage stellt sich ja noch immer. Und nicht nur in unserem Verhältnis zu Menschen jüdischen Glaubens, sondern in unserem Land heute viel häufiger noch im Gespräch mit muslimischen Menschen. Wenn es nur einen richtigen Weg gibt, dann müssten doch alle anderen falsch sein. „Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Also müssten dann nicht alle anderen um ihrer selbst willen bekehrt werden? Trägt unser Glaube also einen Absolutheitsanspruch in sich, der keinen anderen Glauben duldet?

Liebe Schwestern und Brüder,

um es klar zu sagen: Nein! Ich bin fest davon überzeugt, dass unser Glaube nicht von uns fordert, allen, die etwas anderes glauben, zu sagen, dass sie auf dem Holzweg sind. Im Gegenteil. Jesus selbst hat ja immer wieder mit größtem Respekt von Menschen und mit Menschen anderen Glaubens gesprochen. Der entscheidende Punkt liegt für mich aber darin: Wir müssen uns nicht Gottes Kopf zerbrechen! Die Frage, wen Gott zum Heil führt, wen er am Ende liebevoll anblickt und wen vielleicht nicht, haben wir nicht zu beantworten. „In meines Vaters Haus gibt es viele Wohnungen“, sagt Jesus. Das macht Hoffnung – für uns und für andere.

Es gibt darum keinen Grund, in falschen Fundamentalismus zu verfallen. Jesus fordert uns nicht auf, Menschen mit anderem Glauben abzuwerten oder darüber zu belehren, dass sie auf dem falschen Weg sind. Die Verantwortung dafür, welcher Glaube sich am Ende als wahr erweisen wird, können wir Gott überlassen.

„Ich bin der Weg“, sagt Jesus in unserem Bibelwort. Im Johannesevangelium gehört dieser Text zu den so genannten Abschiedsreden Jesu an seine Freundinnen und Freunde. Jesus ist schon in Jerusalem. Sein Blick richtet sich bereits auf das, was ihm bevorsteht: auf das Kreuz. Der Weg, von dem er spricht, ist der Weg des Kreuzes. Und dieser Weg ist eben das Gegenteil von überheblichem Auftrumpfen. Das Kreuz Jesu bedeutet selbstgewählte Zurückhaltung statt Überheblichkeit, Vertrauen auf Gottes Beharrlichkeit statt auf eigene Stärke, Liebe zu Gott und den Nächsten statt Verliebtsein in sich selbst und in die eigenen Standpunkte. Ein Weg, der das Kreuz Jesu in den Mittelpunkt stellen will, kann niemals die eigene Position verabsolutieren. Sondern er wird auf Gott vertrauen: darauf, dass seine Liebe sich am Ende als stärker erweisen wird als alle falschen Mächte und Gewalten und Irrtümer und Lügen.

Für uns geht es auf dem Weg Jesu darum, von dem zu erzählen, woran wir glauben und was wir für wahr halten. Ohne Menschen anderen Glaubens abzuwerten oder auszugrenzen. Wer erzählt, welcher Glaube dem eigenen Leben festen Grund und Orientierung gibt, wertet anderen Glauben dadurch nicht ab. Schon gar nicht, wenn man dann auch ehrlich interessiert nach dem Glauben des anderen oder der anderen fragt: nach der Wahrheit der anderen. Und wenn man mit den anderen die Lust daran teilt, Gemeinsamkeiten zu entdecken, aber auch Einzelheiten der eigenen Wahrheit klarer zu erkennen.

Der Weg Jesu ist der Weg des Dialogs. Jesus hat diesen Dialog oft genug gepflegt. Wenn er mit anderen sprach, dann ging es immer wieder um die Wahrheit. Und er selbst hat mit dem, was er als wahr erkannt hatte, wirklich nicht hinter dem Berg gehalten. Aber er hat sich eben immer auch für sein Gegenüber interessiert: „Was glaubst Du? Was willst Du?“

In diesem Dialog kann dann Leben wachsen. Nämlich als Zusammenleben. Wir sind ja von Gott nicht als isolierte Einzelwesen gedacht, sondern als Menschen in Beziehung. In Beziehung zu ihm und zueinander. Und der Dialog auf dem Wege Jesu ist ein Mittel, um Leben als Zusammenleben zu fördern.

Ein evangelischer Theologe, Wilfried Härle, hat einmal formuliert, dass das Zusammenleben mit anderen Glaubensüberzeugungen oder Lebenskonzepten gelingen kann, wenn zwei Regeln gleichermaßen beachtet werden.

Quelle: www.gemeindebrief.de

Erste Regel: Das eigene Wahrheitsbewusstsein besitzt unbedingte Geltung!

Und die zweite Regel: Die fremden Wahrheitsansprüche verdienen unbedingte Achtung!

Also: Was für mich glasklar und fundamental ist, bleibt glasklar und fundamental auch im Gespräch mit anderen. Aber: Ich respektiere gleichzeitig, dass genau das auch für mein Gegenüber gilt und das dessen Verständnis von Wahrheit darum auch zu achten ist.

Klarheit in der eigenen Position und gleichzeitig absoluter Respekt vor der Haltung des anderen kennzeichnen solchen echten Dialog. Das in der Praxis unseres Zusammenlebens besser einzuüben, wäre doch eine Aufgabe für uns als Gemeinde in einer Gesellschaft, in der es immer mehr Respektlosigkeiten zu geben scheint. Und es würde sich nicht nur auf fremde Religionen beziehen, sondern auf alle Menschen, die unterschiedlich glauben, lieben oder leben.

In einem solchen Dialog brauche ich dem oder der anderen meinen Glauben und meine Sicht der Dinge nicht vorzuenthalten. Aber ich kann dem anderen Menschen auch seine eigene Wahrheit zugestehen. Denn ich weiß, dass letztlich nicht ich dafür verantwortlich bin, ihn auf den rechten Weg des Heils zu bringen. Diese Verantwortung kann ich getrost Gott überlassen. Dafür besteht meine Mitverantwortung darin, gut mit anderen zusammenzuleben.

Liebe Schwestern und Brüder, in diesem Sommer stehen die „Ich bin“-Worte im Mittelpunkt Ihrer Gottesdienste. Die „Ich bin“-Worte Jesu. Es geht aber auch um unsere eigenen „Ich bin“-Worte. Zu sagen, wer wir sind, was wir glauben und für wahr halten, was unserem Leben festen Boden und Orientierung gibt, ist wichtig und gehört zum Weg Jesu dazu. Gutes Zusammenleben wird wachsen, wenn wir den anderen unsere „Ich bin“-Worte nicht vorenthalten. Und wenn wir sie gleichzeitig spüren lassen, dass wir auch an ihren „Ich bin“-Worten ehrlich interessiert sind. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alles, was wir verstehen und begreifen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Jahreslosung 2021

Auslegung der Jahreslosung 2021

Gespräche im Geschwisterkreis über die Eltern können sehr aufschlussreich sein. Erstaunlich, wie unterschiedlich Vater und Mutter von ihren Kindern wahrgenommen werden. Manches bricht erst nach dem Tod eines Elternteils auf. Da können Sätze fallen wie: „Redest du gerade von unserem Vater? Habe ich da was verpasst oder du was verdrängt?“ Oder: „Ich werde es nie vergessen, wie Papa mich in meiner schwierigen Phase nicht fallen ließ!“
Nicht weniger spannend können Gespräche darüber sein, welche Rolle Gott in unserem Leben spielt. Gerade in Krisenzeiten kommt an die Oberfläche, wer Gott für uns ist: Fühlt er mit oder lässt ihn menschliches Elend unberührt? Hat er das Sagen in unserer Welt oder überlässt er das ihren Mächtigen? Ist er gerecht oder ungerecht, allmächtig oder hilflos, herzlos oder barmherzig?
„Gott ist barmherzig“, behauptet Jesus ungeachtet aller Fragen und Vorstellungen seiner Zuhörerinnen und Zuhörer, wenn er sie auffordert:

„Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

Viele Menschen sind unterwegs zu ihm. Manche haben hautnah erlebt, wie Jesus sich ausgerechnet ihnen zuwendet, wo sie doch sonst zu denen am Rande, zu den Ausgestoßenen zählen – gerade aus Sicht der Frommen und ihrer religiösen Führer. Die Zahl der Menschen um Jesus wird immer größer. Die einen halten etwas Abstand, die anderen sind ganz dicht dabei. So auch seine zwölf Jünger, die er gerade erst aus ihrem bisherigen Leben heraus- und in seine Nachfolge hineingerufen hat. Jesus lädt sie ein, ihr Leben verändern zu lassen:

„Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

Der Arzt Lukas erzählt in seinem Evangelium die meisten Heilungsgeschichten. Er richtet seinen Blick nicht auf die Mächtigen, sondern auf die kleinen Leute, die Schwachen und Beladenen: auf Kranke, Hirten, Huren, Witwen, Waisen, auf die „Zöllner und Sünder“. Ihr Leid geht Jesus ans Herz und treibt ihn an Orte, die alle anderen meiden. Er ist da, wo die Starken den von Gott gesandten Messias niemals suchen würden.
Das begann schon mit seiner Geburt. Die Künstlerin Stefanie Bahlinger wählt einfaches Sackleinen als Untergrund ihrer Grafik, in deren Mitte ein kleines von warmem Rot umgebenes Kind liegt – ein Hinweis auf die ursprüngliche Bedeutung von „Barmherzigkeit“: Gebärmutter, Mutterleib. In diesem Kind kommt Gott selbst zur Welt, in die Niederungen seiner geliebten Schöpfung. Angedeutet durch einen Ausschnitt des Erdenrunds dahinter. Genau dieses Motiv des heruntergekommenen Gottes wählt die Künstlerin zur Illustration seiner „Ureigenschaft“, seiner Barmherzigkeit. In Jesus wird sie greifbar, macht Gott sich angreifbar. So ist das von warmem Gelbgold umstrahlte göttliche Kind schon gezeichnet durch das Kreuz.

Wer Jesus begegnet, erfährt Heil und Rettung im Hier und Jetzt. „Und alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen“, so kündigt Johannes der Täufer Jesus an (Lukas 3,6).
Gott liebt und erbarmt sich seiner Menschenkinder. Er sucht Verlorene und feiert Freudenfeste für Gefundene. Jesus zitiert in der Synagoge von Nazareth das Prophetenwort aus Jesaja 61,1-2 und weiß es in seiner Person erfüllt: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“ (Lukas 4, 18. 19)
Die Jesusgeschichte deutet der Evangelist Lukas als Fortsetzung der Geschichte Gottes mit Israel. Gottes Heilsgeschichte kann durch nichts und niemanden aufgehalten werden. Alle, die Jesus nachfolgen, sind Teil dieser Geschichte und sind dazu aufgerufen, sein Reich mitzugestalten. Wie kann das geschehen?

„Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

Egal wie andere leben: „Seid barmherzig!“ Nicht am Verhalten anderer sollen wir uns orientieren. Auch nicht daran, was für uns selbst dabei herausspringt. Maßgeblich ist allein Gottes leidenschaftliche Barmherzigkeit, die uns durch seine Gnade und Treue „unverdient“ widerfährt.
Ist es nicht anmaßend, diesem hohen Anspruch Jesu genügen zu wollen? Mit reinem Gutmenschentum komme ich da schnell an meine Grenzen. Mein Staunen über Jesu vorbildliche Taten und Worte bringen mich auch nicht weiter. Mich beeindruckt in der Grafik die Dynamik, die von dem rundum geborgenen Kind ausgeht. Im Bauhausstil aneinandergefügte warmtonige Flächen breiten sich aus und bilden einen schützenden Raum. Mit den Rot- und Orangetönen nimmt die Künstlerin die bereits über dem Kind lodernde Flamme des Heiligen Geistes auf. Der bewegt seit Pfingsten Menschen über Generationen hinweg, sein Reich zu bauen, sein heilsames Evangelium in Wort und Tag zu verkündigen. Durchaus facetten- und stilreich in ihrer jeweiligen Zeit. Warmweiß leuchtet sein Reich schon im Hintergrund auf.
In der unteren linken Bildhälfte zeichnen sich unklare, wirre Linien ab, die nach oben hin stärker werden. In der rechten Bildhälfte ziehen sich klare weiße Linien von unten nach oben durch und bilden zusammen mit den schwachen Linien der anderen Seite den Spitzbogen eines gotischen Fensters. Auf der linken Seite scheint das Fenster verletzt, auf der rechten nahezu unversehrt, in der Mitte heil zu sein. Doch das Kreuz auf dem Körper des Kindes weist schon auf sein Leiden und Sterben hin und erinnert an sein Wort: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch – für das Leben der Welt.“ (Johannes 6, 51). Sein Blut, Zeichen seiner Liebe zu uns, durchdringt und verändert die Erde.
In der Grafik steckt keine sichtbare Aktion. Sie strahlt vielmehr die unzerstörbare, weltverändernde Kraft der Barmherzigkeit Gottes aus, an der auch seine Kinder teilhaben und die sie verändert. Sie verändert auch mich und hilft mir dabei, auch mit mir selbst barmherzig zu sein. Nichts muss ich geben, was mir nicht selbst geschenkt ist.

„Seid, werdet barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

Nur deshalb ist Jesu Ruf keine Überforderung. Weil mir in Jesus Gottes Barmherzigkeit begegnet, kann ich es auch aushalten, dass ich so Vieles von Gott nicht verstehe. Wie gut, dass auch ER mich mit meinen Fragen und Zweifeln aushält und ich ihn Vater nennen darf. Sein Herz schlägt nun einmal für seine Kinder, besonders für die Kleinen und Schwachen. Bei ihm bin ich geborgen und gehalten wie der Säugling in der Grafik.
Er gebraucht meine unsicheren und zaghaften „Linien“ und bestärkt und vollendet sie wie im strahlend weißen Bogen der Grafik. Ihm ist auch mein persönliches Lebenshaus, als Umriss von der Künstlerin leicht skizziert, nicht zu klein, um darin Wohnung zu nehmen und sie zu gestalten.
Mein Gebet ist es, dass seine Nähe und Liebe mich verändern und zu einem barmherzigen Menschen machen. Dass ER mich korrigiert, wo ich, bewusst oder unbewusst, mich selbst oder andere zum Maßstab meines Handelns mache. Gott schenke mir Beherztheit, da wach und präsent zu sein, wo ich gefordert bin. Ohne krampfhaften Druck, die Welt, und sei es auch nur meine kleine Welt, retten zu müssen. Es darf mich jedoch nicht länger kalt lassen, wenn jemand ins Abseits gerät, egal aus welchem Grund. „Die ist für mich gestorben!“, gilt nicht mehr. Ich bin gefragt und möchte immer wieder neu erkennen, wann, wo und wie ich „Nächste“ sein kann.

Längst nicht immer sind Kinder erfreut und ermutigt durch den Ausruf: „Ganz der Vater!“ In diesem Fall schon.


Quelle:Verlag am Birnbach – Motiv von Stefanie Bahlinger, Mössingen
Auslegungstext: Renate Karnstein

Predigt im Gottesdienst der Herbstsynode am 13.11.2020 von Pfarrer Bleckmann

Predigt im Gottesdienst der Herbstsynode am 13.11.2020

Gott spricht: “Denn siehe, ich will Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?” (Jesaja 43, 19)

Liebe Schwestern und Brüder,
ich habe dieses Jahr Neues erlebt. Seit Mitte Mai bin ich Ketzberger Pfarrer, und ich erinnere mich gut an diese Anfangszeit: Die Pfarrwahl war im Februar. Ich habe mich auf die neue Aufgabe gefreut. Dann der Lockdown im März, Ostern at home. Der Abschied von meiner alten Gemeinde mit Abstandsregelungen und der Dienstbeginn in Ketzberg ebenso. Mein Gefühl dieser Zeit ist bis heute da: wie schnell sich alles total verändern kann! Wie verletzlich unser gesellschaftliches Leben ist. Wie gefährlich die Krankheit werden kann. Ich habe erlebt, wie viele in dieser Krise einmal mehr verantwortlich und solidarisch wurden, kreativ und bereit für Neues. Neu war allein schon, dass sich Menschen auch zurückhalten können. Ich habe aber auch Ermüdung erlebt, Genervtsein, Existenzangst, Überforderung.

Bevor ich hier nach Solingen kam, war ich 27 Jahre in Langenfeld, seit 1993. Wie überall habe ich dort auch den Rückgang der Kirchenmitgliedschaft erlebt und kein „Wachsen gegen den Trend“, obwohl wir gute, manchmal richtig gute Gemeindearbeit gemacht haben. Wir haben immer mehr Leute beerdigt als Kinder getauft. Klar, dass Gemeinden auch auf diesem Wege kleiner werden und weniger Personal und Häuser haben.

Die Mitgliederkrise habe ich immer auch als Glaubenskrise verstanden: Viele haben mit dem Bezug zur Kirche auch den Glauben verloren oder nicht authentisch kennengelernt. Sie haben Gott vergessen und vergessen, dass sie ihn vergessen haben. Bei Taufgesprächen, im Konfirmandenunterricht, im Hausbesuch musste ich oft bei Null anfangen.

Ich will mich nicht beschweren. Sondern nur skizzieren, wo wir stehen.

Wir wissen nicht, wie die Zukunft wird. Wie sich Coronakrise und Kirchenkrise auswirken. Wie es weitergeht mit Klima und den natürlichen Lebensgrundlagen, mit Demokratie und wo bei dem allen die Rolle derer ist, die jetzt in der Kirche Verantwortung tragen.

Aus alter Zeit spricht das Prophetenwort aus dem Jesajabuch in unsere Lage heute abend. Ob es uns Mut machen kann, die Veränderungen anzunehmen? Gott spricht: “Siehe, ich will Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?”

Jesajas Zuhörerinnen und Zuhörer erlebten das Ende der Babylonischen Gefangenschaft. Das war überraschend und es war fraglich, ob der neuen Lage zu trauen ist. Die Menschen rieben sich die Augen und mussten erst einmal Vertrauen fassen und in dem Neuen auch das Gute entdecken.

Für Jesaja war klar: Gott handelt. Er ist Ursprung aller Kreativität, schöpferisch wie am Anfang. Die Schöpfung und alles hat er aus dem Nichts geschaffen. Es ist Gott nicht zu schwer, immer wieder schöpferisch diese Welt zu gestalten.

Durch Jesaja spricht Gott, der den Regenbogen in die Wolken setzte – das Bundeszeichen, dass die Schöpfung bestehen soll. Ich finde es bemerkenswert, dass dieser Regenbogen seit dem Lockdown Kinderzimmerfenster schmückt und die hoffnungsvoll-trotzige Botschaft transportiert: „Alles wird gut“.

Gott will Neues schaffen, sagt Jesaja, und er erinnert an die Liebesgeschichte Gottes mit Israel. Diesem versklavte Volk hat Gott Freiheit und Hoffnung geschenkt. Gott hat seine Volk durch alle Krisen geführt, durch Meer und Wüste. Immer und immer wieder spiegeln solche Geschichten Erfahrungen von Menschen wider, die in Gott die Kraft sahen, nicht aufzugeben.

In dieser Linie seines Volkes Israel tritt Jesus auf und verkündet das Reich Gottes. Kein Schlaraffenland, aber die Zukunft Gottes für alle: für die am Rand, für Bedrohte und Ungeschützte. Hoffnung für Hoffnungslose. Seine Auferweckung von den Toten ist das Zeichen, dass bei Gott nichts unmöglich ist, dass es kein Ende gibt, dem nicht ein Neuanfang in bis dahin ungeahnter Form folgen kann. „Wer Ostern kennt, kann nicht verzweifeln (Bonhoeffer)“.

Und in dieser Linie stehen wir heute, Christinnen und Christen des 21. Jahrhunderts.

Wir wissen um die Herausforderungen der Zeit, wir zehren von dem Hoffnungspotential unserer Tradition. Ich glaube, dass Gott der Kirche immer neu Leben einhaucht. Sie entsteht immer neu in jeder Generation. Der Prozess ist manchmal mühsam, manchmal schmerzlich. Kraftquelle für alle Veränderungen der Kirche darf die Hoffnung sein. Denn auch eine kleiner werdende Kirche kann nah bei den Menschen sein. Diasporakirchen machen es uns vor: sie können zahlenmäßig klein sein und zugleich glaubwürdig und wirksam in ihrem Kontext.

Was sollen wir also tun, die wir heute in der Kirche Verantwortung tragen? Ich würde sagen: wir sollten alles tun, was der nächsten Generation nützt. Je älter ich werde, desto mehr möchte ich der nächsten Generation etwas hinterlassen, das sie nicht belastet, sondern ihr Freiraum gibt.

Wer ist der Motor der Veränderung? Wir sind es selbst. Gott gibt die Kraft dazu. Und wir werden das schaffen, wenn wir uns füreinander interessieren, wenn wir aufeinander hören, wenn wir füreinander sorgen. Das Bibelwort im Jesajabuch war ja zuerst gerichtet an Menschen, die bereits viel mit Gott erlebt hatten. Es waren erfahrene Glaubende, versiert und mit der Glaubensgeschichte vertraut. Ich komme darauf, weil es auch bei den Veränderungsprozessen, die wir heute zu regeln haben, auf Erfahrungen ankommt. Aber nur, wenn die Erfahrungen einen beweglich machen.

Daher schlage ich vor, dass die Älteren unter uns, und ich zähle mich mit zu ihnen, dass die langjährig bei Kirche engagierten eine betont konstruktive Rolle spielen. Es ist kein Zufall, dass die Glaubensgeschichte Gottes mit Abraham begann, der ja auch kein Youngster war, als Gott ihn rief. Er, der alte Mann mit Sara, der alten Frau, sie sind Prototypen des Menschen in Veränderung, sie gehen aus ihrem Land und ihrer vertrauten Umgebung in ein Land, das Gott ihnen zeigen wird. „Seht ihr‘s nicht, Gott will Neues schaffen“ – er braucht dazu alle Kräfte ganz bestimmt in jedem Alter, im Haupt- und Ehrenamt. Die Jungen bringen ihre Kraft und ihre Ideen mit. Die Abrahams und Saras unter uns, also die mit den vielen Erfahrenen bringen sich als Motoren der Veränderung ein. Die Älteren haben soviel erlebt und soviel ausprobiert, sind gescheitert und haben wieder Neues versucht. Die Aufgabe für die nächsten, diese letzten Jahre ist es, Motoren der Strukturveränderung der Kirche zu sein: Je erfahrener, desto beweglicher! Je älter, desto offener für neue Wege!

Was haben wir schon zu verlieren? Nichts! Die Kirche verändert sich sowieso. Verlieren können wir Älteren bloß die undankbare Rolle des Bremsers, auf dessen Ruhestand oder altersbedingtes Ende des Ehrenamtes die Jüngeren sehnlichst warten. Wir sollten Spuren hinterlassen, nämlich Strukturen, die etwas taugen, auch wenn die Kirche kleiner wird.

“Siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?”

Gott stattet uns aus mit Hoffnung in jeder Lage. Wir sollen uns gemeinsam die Augen reiben und sehen, was ist: Neues entsteht. Gott lässt es wachsen. Wir sollen’s erkennen. Und wir sollen erkennen, dass wir jetzt nicht zu bremsen brauchen, sondern beschleunigen können. “Erkennt ihr’s denn nicht?”

Und Gottes Friede bewahre Herzen und Sinne, durch Jesus. Amen.

Pfarrer Christof Bleckmann, Evangelische Kirchengemeinde Ketzberg

Quelle: www.gemeindebrief.de, Grafik: Lindenberg

Predigttext zu Abrahams Auszug (1. Mose 12, 1-4) vom 02.08.2020

Gnade sei mit uns und Friede, von dem, der da ist, und der da war, und der da kommt, von unserem Herrn und Heiland Jesus Christus. Amen

Liebe Gemeinde! In unserer diesjährigen gemeinsamen Sommerpredigtreihe in Gräfrath und Ketzberg beschäftigen wir uns im Sinne unserer Jahreslosung „ich glaube, hilf meinem Unglauben“ mit Texten, in denen es um Glauben und Vertrauen geht. Und dafür ist diese uralte Abrahamsgeschichte ein schönes

Beispiel. Ich lese 1. Mose 12, zunächst nur die Verse 1+2: „Und der Herr sprach zu Abraham: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zu einem großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein.“

Wir merken sofort, liebe Gemeinde, unser Gott ist kein toter Gott, wie dies gerne die Atheisten behaupten, sondern unser biblischer Gott ist ein Gott, der plötzlich und unvermittelt eingreift in das Leben von Menschen, sie zu seinen Werkzeugen auserwählt und mit ihnen seine Heilsgeschichte beginnt. Dieser Gott erscheint uns hier sehr direkt und vielleicht auch aufdringlich. Er fragte ja nicht den Abraham, ob er überhaupt damit einverstanden sei, seinen ihm vertrauten Lebenskreis zu verlassen, sondern er forderte eigentlich recht streng und zielstrebig: „Geh aus deiner Heimat in ein unbekanntes Land, das ich dir zeigen will.“

Wir können, so glaube ich, sehr gut nachempfinden, welche Ungeheuerlichkeit Gott von Abraham verlangt hat, denn sein Imperativ bedeutete damals einen Abschied für immer und ein unkalkulierbares Risiko. Abraham und seine wenigen Getreuen mussten sich ohne Aussicht auf ein Wiedersehen von ihrer gewohnten häuslichen Geborgenheit trennen, und es gab nach ihrem Aufbruch unwiderruflich keinen Kontakt mehr mit der alten Heimat. In der Einsamkeit der Wüste klingelte damals kein Handy, auch keine SMS oder eine WhatsApp-Gruppe versüßte die beschwerliche Wanderung. Wer damals aufbrechen musste, der ging zunächst einmal in eine ungewisse Zukunft voller Gefahren. Er musste täglich um sein Überleben kämpfen mit Wegelagerern und wilden Tieren, mit Wasserknappheit und Heimweh nach der vertrauten Umgebung.

Liebe Gemeinde, am Beispiel des Abraham können wir auch heute lernen, dass jeder Mensch irgendwann einmal bereit sein muss, sein alltägliches geschütztes Umfeld in Elternhaus und Schule zu verlassen. Gerade nach dem Schulabschluss verlassen junge Menschen voller Tatendrang und Aufbruchsfreude ihre gewohnten, vielleicht auch ihre etwas monotonen und eingefahrenen Wege, um dann an anderer Stelle in Ausbildung und Studium ihren Erfahrungshorizont zu erweitern, neue Anforderungen zu bewältigen und andere Menschen kennen zu lernen. Solche Aufbrüche markieren einen entscheidenden Einschnitt im Leben der Jugendlichen, um endgültig erwachsen und selbstbestimmt zu werden. Wie wichtig auch Elternhaus und Schule sind, die uns früher gerade in unserer Kindheit und Jugend Liebe, Geborgenheit und sozialen Halt gaben und eine gewisse, auch eine geistige oder geistliche Lebenssicherheit vermittelten, so ist es jedoch für jeden Menschen unerlässlich, einmal aus diesen gewohnten Ursprungsbindungen aufzubrechen und selber volle Verantwortung für sich und auch für andere zu übernehmen.

Das Umherziehen des Abraham symbolisiert und exemplifiziert meines Erachtens in deutlicher Weise diese Grundbestimmung unseres Menschseins. Wir dürfen nicht statisch im Gestern verharren und uns ängstlich an liebgewordenen Konventionen festklammern, sondern wir müssen uns vertrauensvoll den neuen Fragen der Zukunft dynamisch öffnen. So können wir nicht nur auf alte Sicherheiten pochen, sondern müssen genau so wie Abraham bereit sein, aus den vertrauten und alt bekannten Wegen aufzubrechen und neue Kontakte zu suchen und zu knüpfen.

Die Tiefenpsychologin Maria Kassel sieht gerade in der Berufungsgeschichte des Abrahams ein spezifisches Zeichen dafür, wie generell ein Jugendlicher zu einem Erwachsenen wird. Sie meint, dass jeder erwachsen werdende Mensch den Aufbruch antreten muss aus seinen biologischen und naturhaften Bedingungen, die ihm zwar einen gewissen sicheren Platz im sozialen Gefüge gewähren, die aber auch die Entfaltung eigener schöpferischer Energien hemmen, die zwar festigen, aber auch festhalten, die Wärme spenden, aber auch einlullen und die individuelle Initiative zur Weiterentwicklung bremsen.

Ich finde, Frau Kassel hat sehr eindrucksvoll die Gegensätze zwischen den alten und den neuen Wegen herausgearbeitet. So ist zwar eine Festigung an sich schön und wichtig, aber die Gefahr besteht darin, dass diese Festigung mit einem Festhalten verbunden ist, das einzwängt und abschnürt und damit neue Aufbrüche und Erfahrungen behindert. Auch ist es gewiss wunderbar, wenn man die Geborgenheit und Wärme einer vertrauten Umgebung spürt, aber sie darf nicht dazu führen, dass man eingelullt wird und somit unfähig ist, sich frischen Wind um die Nase wehen zu lassen und aufzubrechen zu neuen Zielen und Herausforderungen. So müssen wir ja auch als Eltern lernen, ab einem gewissen Zeitpunkt unsere Kinder loszulassen und ihnen ermöglichen, ihre individuellen Erfahrungen zu sammeln und ein eigenes und ein selbstständiges Leben zu führen.

Ich hatte mal vor Jahren in einem Abiturgottesdienst über diese Verse zu predigen und sprach mit den jungen Menschen zuvor über ihre Zukunftspläne.

Ein Schüler antwortete mir: „Natürlich freue ich mich auf die Zeit nach dem Abi, aber es werden unvermeidbar auch alte Kontakte verloren gehen.“ So ist es also im Leben, liebe Gemeinde, Es gibt keinen wirklichen Aufbruch ohne den gleichzeitigen Abbruch von zwischenmenschlichen Beziehungen und persönlichen Bindungen, auch wenn dies oft schmerzlich ist.

Vers 2 macht aber deutlich, dass Gott nicht nur einen strengen Anspruch postuliert, in Unbekanntes aufzubrechen und Liebgewordenes abzubrechen, sondern auch einen enormen Zuspruch bereit hält. Gott verheißt nämlich dem Abraham, dass er zum Ahnherrn eines großen Volkes werden wird und von ihm den Segen empfangen wird.

Segen zeigte sich im Alten Testament zunächst im Sinne von physischer Fruchtbarkeit, also im Kinderreichtum. Denn Abraham, der ja zunächst nur Abram hieß, wurde, wie wir alle wissen, Vater eines großen Volkes und das bedeutete dann sein neuer Name Abraham. Für ihn haben sich alle Verheißungen Gottes erfüllt. Selbst heute nach über 3500 Jahren sprechen wir noch über ihn. Abraham als Gesegneter wurde sogar zum Stammvater aller drei großen monotheistischen Weltreligionen, des Judentums, Christentums und Islams.

Segen bedeutet jedoch noch viel mehr, liebe Gemeinde, nämlich individuelles Glück, gerade auch in harmonischen Lebensbeziehungen, Spaß und Freude an einer interessanten beruflichen Tätigkeit, die unseren vollen Einsatz fordert und uns Befriedigung schenkt. Vielleicht mag ich ja altmodisch sein: Beruf bedeutet für mich immer noch Berufung und damit Freude und Hingabe an meine Tätigkeit, und nicht nur Job, also etwas, was ich – vielleicht sogar ungern – tue, nur um dadurch meinen Lebensunterhalt zu verdienen. So bin ich Gott auch heute noch von Herzen dankbar, dass für mich meine Tätigkeit als Latein- bzw. Religionslehrer wirklich ein Beruf war, den ich gerne ausübte und der mich voll befriedigt und erfüllt hat. Der Segen ist natürlich auch mit Gesundheit und vor allem auch mit innerer Zufriedenheit und seelischer Ausgeglichenheit verbunden.

Vers 2 schließt aber nicht nur mit dieser Zusage eines gesegneten Lebens, sondern er enthält auch noch einen kräftigen Imperativ, einen wirklich ernst zu nehmenden Anspruch, der meines Erachtens für unser aller Leben gelten sollte. Gott ermahnte den Abraham: Du sollst ein Segen sein!

Wer von Gott gesegnet ist, der behält diesen Segen nicht nur egoistisch für sich. sondern der versucht in altruistischer Weise, anderen zum Segen zu werden, indem er sich tatkräftig für sie einsetzt und immer ein offenes Ohr für den Nächsten hat. Der biblische Segen hat also auch und gerade eine soziale und politische Dimension.

Wir können aber, wie einst Abraham, sicher sein, dass Gott uns begleiten will, wenn wir bereit sind, uns auf seine Führung einzulassen. Das bedeutet ja im biblischen Sinne zu glauben, nämlich Gott eine Chance zu geben und ihm die Möglichkeit zu eröffnen, eine entscheidende Rolle in unserem Leben zu spielen.

Im Religionsunterricht besprach ich gerne Texte von Heinz Zahrnt. Dieser 2003 verstorbene evangelische Theologe und bekannte Publizist bemühte sich in besonderer Weise, gerade kirchlich distanzierten Zeitgenossen auf intellektuelle Weise die biblische Botschaft etwas näher zu bringen. Zahrnt meinte in Bezug auf die Gottesfrage: „Welche Wahrheit ein Mensch auch wählt, er kommt nicht um die Zumutung herum, dass er sich auf etwas einlassen muss. Bei der Begegnung mit dem christlichen Glauben geht es nicht anders zu. Auch er bietet eine Lebensmöglichkeit an, die man nur erproben kann. Wer Gott erfahren will, muss – wie auch sonst im Leben- auf etwas setzen, was er vorher nicht weiß. Er muss glauben, denken und handeln, als ob es Gott gibt. Allein so wird er erfahren, ob es ihn gibt. Gott wohnt nur dort, wo man ihn einlässt.“

Liebe Gemeinde, Abraham hatte Gott vertraut, er hatte sich auf diesen unsichtbaren Gott eingelassen und diesen ungewöhnlichen und für die damalige Zeit sehr gefährlichen Exodus gewagt. Und auf seiner langen, beschwerlichen Lebenswanderschaft hatte er dann vielfältig erfahren, dass es Gott gibt.

Wie steht es mit uns, liebe Gemeinde? Warum lassen wir uns heutzutage so wenig auf diese Zumutung ein? Warum erproben wir nicht mal diese Möglichkeit, mit Gott zu leben? Warum rechnen wir kaum noch mit dem Eingreifen Gottes in unsere Zeit? Warum reden wir mit ihm viel zu wenig im Gebet?

Ich halte Zahrnts Ratschläge für sehr wichtig. Wir sollten auch im 21. Jahrhundert von der Realität Gottes ausgehen und ihn hineinlassen in unser Herz, hineinlassen in unser Denken, hineinlassen in unser Leben. Denn Gott will nur da wohnen, wo man ihn einlässt. Amen

Dr. Holger Ueberholz

Impuls für heute… – Raus auf die Strasse!

In der Osternacht war ich in den Straßen von Gräfrath unterwegs und habe auf Gehwege und Bürgersteige die Osterbotschaft geschrieben: Der Herr ist auferstanden! Manchmal auch ergänzt: Er ist wahrhaftig auferstanden! – so lange bis meine Straßenkreide alle war! Ich fand, das war eine klasse Aktion, dieser stille Flashmob, an dem ich mich da beteiligt habe – und der Inhalt ist es sowieso! Diese gute Nachricht muss raus auf die Straßen. In diesem Jahr umso mehr, da die Kirchen für unsere Oster-Gottesdienste geschlossen waren.

Auf die Straße hinaus trieb es auch zwei Jünger Jesu, die sogenannten Emmaus-Jünger. Obwohl es schon Abend war und bald Nacht würde. Darum hatten sie ja den unbekannten Wanderer eingeladen, bei ihnen zu bleiben. Der fremde Mann hatte sich auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus zu ihnen gesellt, als sie so traurig nach Hause gingen. Was sollten sie noch in Jerusalem? Jesus gekreuzigt und dann das seltsame Gerede der Frauen vom leeren Grab? Und dass Jesus auferstanden sei! Die beiden wussten nicht so recht, was sie von alledem halten sollten.

Der Mann spricht sie an, scheinbar neugierig, was sie da unterwegs so traurig besprechen. Und sie schütten ihm ihr Herz aus, erzählen ihm alles, was passiert ist in den letzten Tagen in Jerusalem. Und der Mann hört zu, fragt nach und erklärt – er weiß gut Bescheid in den alten Schriften und sagt – das musste alles genau so passieren. Der Retter, den Gott schickt, wird sterben und auferstehn. Die beiden staunen und hören aufmerksam zu. Wie lebendig der Fremde ihnen die alten Schriften auslegt. So hatten sie das noch nie gehört!

Als sie zu Hause angekommen sind, ist es Abend geworden. Sie laden den Mann ein, bei ihnen zu bleiben, denn bald schon wird es Nacht werden. Gemeinsam setzen sie sich an den Tisch. Der Fremde nimmt das Brot, bricht es und im selben Moment begreifen die Jünger, wer da bei ihnen am Tisch sitzt.

Im nächsten Augenblick ist Jesus nicht mehr zu sehen. Sie fragen sich: Wie ist das nur möglich? Den ganzen Weg von Jerusalem sind wir mit ihm gegangen und haben ihn nicht erkannt. Aber es wurde uns immer leichter ums Herz!

Es hält sie nicht mehr zu Hause. Sie müssen wieder raus auf die Straße. Voller Freude laufen die beiden Jünger so schnell wie möglich zurück nach Jerusalem. Trotz Dunkelheit, trotz Nacht. Das müssen sie den anderen so schnell wie möglich erzählen! Die sollen die gute Nachricht erfahren: Der Herr ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden!

Noch ist die Kreide-Botschaft auf dem Bürgersteig vor meinem Haus zu lesen. Wenn ich raus gehe in den Alltag, geht die Osterbotschaft mit. Das ist nicht vorbei, auch wenn die beiden Osterfeiertage um sind. Der auferstandene Herr geht mit. Er ist mit mir unterwegs, teilt meine Sorgen, hört meine Fragen, gibt Trost und Zuversicht, wenn ich traurig und niedergeschlagen bin. Und immer wieder – wie bei den Emmaus-Jüngern – Momente des Glücks, der Dankbarkeit und der Erkenntnis: Ja! Jesus lebt! Er ist wahrhaftig auferstanden. Diese Nachricht muss raus – unter die Leute – auf die Straße!

Bärbel Albers