Predigt von Oberkirchenrätin Henrike Tetz am 3.9.2023 im Festgottesdienst zum Jubiläum 150 Jahre Kirche Ketzberg:
Bibeltext: 1.Mose 28, 10-22: Jakob schaut die Himmelsleiter
10 Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran
11 und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.
12 Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.
13 Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben.
14 Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.
15 Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
16 Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!
17 Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.
18 Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf
19 und nannte die Stätte Bethel[A]; vorher aber hieß die Stadt Lus.
A) d.h. Haus Gottes.
20 Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: Wird Gott mit mir sein und mich behüten auf dem Wege, den ich reise, und mir Brot zu essen geben und Kleider anzuziehen
21 und mich mit Frieden wieder heim zu meinem Vater bringen, so soll der HERR mein Gott sein.
22 Und dieser Stein, den ich aufgerichtet habe zu einem Steinmal, soll ein Gotteshaus werden; und von allem, was du mir gibst, will ich dir den Zehnten geben.
Predigt 150 Jahre Ev. Kirche in Ketzberg 3.9.2023
Gottes Friede sei mit euch alle Zeit. Amen.
Liebe Festgemeinde,
sie hatten ein gutes Gespür, die Männer und Frauen vor 150 Jahren in der evangelischen Gemeinde Ketzberg. Sie hatten ein gutes Gespür dafür, dass sich etwas verändert, etwas anders ist und wird. Sie lebten an der Schwelle zu einer neuen Epoche – nichts geringeres– das wissen wir heute. Ob sie selbst diese Dimension erahnten? Es scheint fast so.
Früh waren sie dran mit ihren Plänen und sie waren mutig. 1871 legten sie den Grundstein für diese Kirche. Die Gemeinde wird sich verändern, sogar wachsen – da waren sie überzeugt. Der Kirchbau würde dazu beitragen; er würde den Menschen einen geistlichen Ort schenken, einen Ort der Gemeinschaft mit Gott und miteinander.
Die Entwicklungen im Bergischen Land gaben ihnen recht. In der Gegend von Gräfrath fanden viele Industrielle die richtigen Bedingungen für ihre Großvorhaben. Es war eine Zeit der Startups, der innovativen Kräfte, der Erfinder*innen und ökonomischen Visionär*innen, der Pionier*innen. Eine Seidenweberei, eine Stahlwarenfabrik, eine Süßwarenfabrik siedelten sich an, die Kommune investierte in die Infrastruktur mit einer Gasanstalt, mit Eisbahn und Straßenbahn. Es kam zugleich zu großen sozialen Verwerfungen, viele lebten in Armut und Ausbeutung.1871 war all das fast zum Greifen nah.
Sie waren findig in der evangelischen Gemeinde Ketzberg. 3000 Taler Fördermittel aus der Staatskasse des Kaisers – also fast ein Fünftel der Baukosten. Eine beachtliche Quote. Sie erkannten die Gelegenheit und ergriffen sie, investierten finanzielle Mitteln, Zeit und Kraft für ein Ziel, das sich nur erahnen und erhoffen lies.
Der Kirchbau selbst brauchte zwei Jahre – das war zügig. Doch die erhoffte Entwicklung im Ort Ketzberg war es nicht. 1871 gab es 37 Wohnhäuser mit 279 Einwohnern, 35 Jahre später 50 Wohnhäuser mit 289 Einwohnern. Die Zahlen dümpelten, dennoch ließ sich die Gemeinde nicht beirren. In der Hoffnung, dass all die eingesetzten Kräfte wirken und weite Kreise ziehen würden: der Bau, die Sanierungen, die Anschaffung einer prächtigen Altarbibel, die neuen Gottesdienstformate, die wunderbare Kirchenmusik. So viel Engagement, damit Menschen mit allen Sinnen erleben können: Dies ist Gottes Haus, hier ist die Tür zum Himmel, aufgetan um niemals wieder geschlossen zu werden.
Liebe Gemeinde, mit dieser starken Gründungsgeschichte verbinden Sie sich heute erneut, 150 Jahre später, indem Sie die Einweihung Ihrer Kirche mit einem Festgottesdienst in Erinnerung bringen. Doch eigentlich ist diese Gründungsgeschichte immer präsent. Sie kann gelesen werden in dem Schriftzug über der Kirchenpforte „Dies ist Gottes Haus“, an den Fenstern und Türen der Kirche, die weitere Worte der biblischen Verheißung aufnehmen. Sie ist verwoben mit diesem Kirchgebäude und den Menschen, die hier seit eineinhalb Jahrhunderten, als evangelische Gemeinde leben. Und sie führt uns noch weiter zurück bis zu den Glaubensvätern- und müttern in Urzeiten, in denen der Grundstein auch für unseren Glauben gelegt wurde und eine Geschichte des Heils begann, die bis zu uns und so hoffen wir, noch weit über uns hinaus reichen wird.
Die Gründungsväter und -mütter dieser Kirche sahen sich und ihr Tun, sahen ihre Vision eng verbunden mit der Vision Jakobs.
Heimatlos und auf der Flucht vor seinem Bruder stößt Jakob auf einen Ort, an dem er Ruhe findet, sogar schlafen kann. Schlafen nicht so wie Heimat- und Obdachlose, also immer ein Auge offen, wachsam und auf der Hut. Nein, diesmal wird er vom Schlaf umhüllt, damit seine Augen etwas sehen können, was ihm bis dahin verborgen war, etwas überwältigend Neues; Jakobs Augen werden im Traum geöffnet und er sieht eine Leiter, die auf der Erde steht und die bis in den Himmel reicht, er sieht Himmel und Erde verbunden, er sieht Gott und sich selbst verbunden. Nicht im Nirgendwo, sondern an genau an dem Ort, an dem Jakob sich schlafen gelegt hat; genau dort begegnen sich Gott und Jakob. Genau dort hört Jakob die große Segensverheißung, die ihm und in ihm allen Völkern der Erde gilt. „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo immer du hinziehst, und will dich wieder zurückbringen auf diesen Boden“. Dem Heimatlosen wird Heimat, dem Gejagten wird Schutz verheißen. Dieser Boden wird für ihn zum heiligen Ort, denn er befindet sich an einem Wendepunkt: Jakobs Leben erfährt durch Gott eine Wende, Jakob wendet sich Gott zu. Der Stein, auf den er sein Haupt zum Schlafen gelegt hat, bestimmt er zum Grundstein für ein Gotteshaus, dass er bauen will, wenn sich die Verheißung einer heilen Heimkehr, wenn sich der Segen erfüllt hat.
Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte und ich wusste es nicht! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus und hier ist die Tür zum Himmel.
Liebe Gemeinde, was mag die Geschichte Jakobs den Gründungsvätern- und müttern dieses Kirchgebäudes bedeutet haben? Wie sahen sie sich selbst in dieser Geschichte, wie erlebten sie sich als Teil dieser Geschichte?
Dies ist Gottes Haus – die Worte über der Kirchenpforte: Sollten sie die Heiligkeit des Gebäudes betonen, und ihre Ehrfurcht und Dankbarkeit gegenüber Gott?
War die Inschrift als Abgrenzung gegenüber weltlichen Ansprüchen gemeint?
Oder sollte sie markieren, dass dies ein schützender Ort ist, der Menschen in Nöten und Ängsten aufnimmt?
Sollte das Kirchgebäude davon erzählen, dass Gemeinschaft mit Gott auch etwas sinnlich Schönes sein kann? Dass diese Gemeinschaft Biographien umkrempeln kann?
Wurde der Grundstein gelegt in dem Vertrauen, dass Gott seine Verheißung an Jakob erfüllt hat und sein Segen gilt und wirkt, auch tausende Jahre später, auch im kleinen Ketzberg im Bergischen Land?
Schwangen auch Fragen mit: Wirst du, Gott, zu deiner Verheißung stehen? Hier und Jetzt und für die zukünftigen Generationen auf diesem Flecken Erde? Wirst Du, Gott, mit uns gehen in eine Zeit, die wir noch nicht recht deuten können? Wirst Du, Gott, unsere Pläne aufgehen lassen, diese findigen und wagemutigen Pläne?
Dies ist Gottes Haus und hier ist die Tür zum Himmel – das ist ein Satz, der ja selbst ein Wagnis ist. Beim Urvater des Glaubens Jakob – vor 150 Jahren – und heute auch. Mit ihm riskieren Menschen etwas. Denn er beschreibt ja keine selbstevidente Tatsache. Er ist erfahrungsgesättigt, aber nicht für alle. Er ist zuversichtlich, aber macht nicht immun gegen Zweifel.
Auf jeden Fall ist der Satz dazu angetan, dass Menschen reagieren und ins Tun kommen. Wie Jakob selbst: Er steht früh am Morgen auf und nimmt den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte und richtet ihn auf zu einem Steinmal und gießt Öl darauf und nennt die Städte Bethel, das heißt Haus Gottes.
Menschen kommen ins Tun, wie die evangelischen Christinnen und Christen vor 150 Jahren: An der Schwelle zu einer neuen Epoche legten sie vertrauensvoll den Grundstein für diese Kirche und damit auch für den heutigen Lebensort der Gemeinde Ketzberg.
Menschen kommen ins Tun, so wie Sie, die Menschen dieser Gemeinde. Auch jetzt leben wir in einer Schwellenzeit, oft wird von der großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation gesprochen, die zum Greifen nah scheint. Wie sind Sie hier in Ketzberg Teil der Geschichte Jakobs, zu der auch die Geschichte der Gemeinde vor 150 Jahren gehört. Welche Visionen bewegen Sie?
Mir scheint, es ist viel in Bewegung. Die Gemeinde Ketzberg und ihre Nachbargemeinde Gräfrath wachsen zusammen – das können wir bei diesem Festtag erleben. Den Segen Gottes weiterzugeben, das motiviert Sie zu gemeinsamen innovativen Überlegungen. Kinder und junge Menschen zu begleiten und zu stärken – dafür investieren Sie viel. Bis hin zum Brückenschlagsprojekt mit der Jugendbildungsstätte Hackhauser Hof. Menschen jeden Alters feiern ihr Leben und ihren Glauben mit ihrer Musik, singen in Chören, tanzen gemeinsam. Viel Lebendigkeit!
Viel Lebendigkeit trotz geringerer Finanzmittel, dümpelnder Gemeindegliederzahlen und kleiner werdender Resonanzräume in unserer Gesellschaft.
Manche gegenwärtigen Veränderungen und Abbrüche sind bitter und verlustreich, das ist so. Aber sie weiten auch unseren Blick – über die Grenzen der eigenen Gemeinde, über die Grenzen der eigenen Kirche hinaus und lassen uns danach suchen: Wo begegnet Gott heute den Menschen? Wie öffnet er heute die Tür des Himmels und spricht zu uns? Wie will sein Segen, den er vor langer Zeit Jakob zugesprochen hat, bei uns neu werden? An vielen Ecken und Enden halten Menschen danach Ausschau, auch hier in Ketzberg und Gräfrath, wie Pionier*innen, wie Visionär*’innen, wie Erfinder*innen. Und fragen: Wirst Du, Gott, unsere Pläne aufgehen lassen, auch unsere findigen und wagemutigen Pläne? Wirst Du bei uns deinen Segen neu werden lassen?
Früh am Morgen, erzählt unsere biblische Geschichte, früh am Morgen stand Jakob auf. Als der erste Schein die Dunkelheit verdrängt, sieht Jakob sich und seine Welt in einem neuen, anderen Licht. Früh am Morgen legt er den Grundstein, als Zeichen für sein neues Leben mit Gott.
Um dieses neue, lebensschaffende Licht, von dem die Geschichte erzählt, zu sehen, wurden im Mittelalter Gotteshäuser mit großen, wunderbar farbigen Glasfenstern gebaut. So entstanden die gothischen Kathedralen, die viele bis heute faszinieren. Denn es wird, so die Vorstellung der damaligen Architekten, durch die sonnenlichtgetränkten farbigen Fenster das Göttliche sichtbar und es erfüllt den Kirchraum und die Gemeinde. Alles, was in diesem Licht ist, erstrahlt in seiner Verbindung mit Gott. Es bringt auch die Menschen zum Leuchten. So werden sie zu wunderbar farbig leuchtenden Lichtträger*innen.
Mir scheint, die besondere Bedeutung, die die Gemeinde in Ketzberg den Fenstern ihrer Kirche zugemessen hat, liegt auf dieser Ebene. „Licht ist dein Kleid“ – wird da Psalm 104 aufgenommen. Gottes Licht erschafft Lichtträger*innen. Er zündet seine Lichter in uns an, so hoffen wir. So großzügig, so fließendweit wie ein Gewandt, so strahlend hell wie Licht sein kann. Stellen Sie sich doch einmal bewusst in dieses bunte Licht in Ihrem Kirchgebäude und nehmen Sie es in sich auf, und nehmen Sie Ihre Wahrnehmungen mit nach draußen.
Geben wir diesem Licht Gottes Raum. Schirmen wir es nicht ab oder machen es klein. Und halten wir unsere Augen offen dafür, wo sein Licht überall leuchten will, in unserer Kirche, außerhalb unserer Kirche, an so vielen Orten – so weit und groß wie der Segen, den Gott Jakob zuspricht: Durch dich und deine Nachkommen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden.
Amen.
Henrike Tetz ist seit 2018 hauptamtliches Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland und als Oberkirchenrätin Leiterin der Abteilung 3 – Erziehung und Bildung. Die Theologin (Jahrgang 1963) studierte an den Universitäten Bonn, Tübingen und Oxford. Als Vikarin war sie unter anderem für die Church of England in London tätig. Nach ihrer Ordination für den Pfarrdienst in der Evangelischen Kirche im Rheinland im Jahr 1993 arbeitete sie als Schulpfarrerin in Düsseldorf. 2007 wurde Henrike Tetz Mitglied des Kreissynodalvorstands des Kirchenkreises Düsseldorf und leitete dessen Abteilung Seelsorge. 2010 wählte die Kreissynode sie zur Superintendentin. Tetz befasste sich in dieser Zeit besonders mit neuen Gemeindestrukturen, der Entwicklung des Ehrenamts und der Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie. Als Oberkirchenrätin verantwortete sie im Jahr 2019 gemeinsam mit der Evangelischen Jugend im Rheinland federführend die erste Jugendsynode zu den Themen Partizipation und Bildungsgerechtigkeit. (Quelle: EKiR)