Für sich sein

“Ich bin allein, aber nicht einsam” – sagt die 52jährige Single, gut eingebunden in Freundeskreis und Chor. Eine Ehe hat sie hinter sich, in der sie sich einsamer fühlte als heute. Auch in einer Familie können Menschen einsam sein. Wenn die Beziehungen oberflächlich oder von Abwertung geprägt sind, kann man unter Menschen vereinsamen. Trennung führt zu Einsamkeit, Einsamkeit führt zu  Trennung.

Der einsame Cowboy, der kurz vor dem Abspann in den Abendhimmel reitet, ist eine genauso romantisierte Figur wie der Mönch in seiner Klosterzelle oder der Alm-Öhi in den Bergen. Meist lieben gestresste Städter solche Vorstellungen von einem Einsiedlertum, bei der Menschen ganz bei sich sind. Hape Kerkeling machte als Pilger auf dem Jakobsweg auch ganz allein sein Ding.

Es stimmt ja: für sich zu sein, kann herrlich sein. Und wer das gar nicht kann, ist auch für seine Mitmenschen manchmal schwer erträglich. Menschen brauchen belastbare Beziehungen. Manchen reichen wenige verlässliche Beziehungen. Aber ziemlich traurig ist es, wenn jemand isoliert lebt und am Ende der Pfarrer allein am Grabe betet.

„Wende dich zu mir, denn ich bin einsam“ – dieses Gebet aus Psalm 25,16 käme vielen nicht einmal über die Lippen. Wer sagt schon von sich, einsam zu sein? Das ist schambesetzt. Als wäre man unverträglich und persönlich gescheitert. Vor allem: selbst schuld! Andere raten zu  schneller Selbstoptimierung: „Such dir ein Hobby, ein Haustier, ein Ehrenamt.“ Wenn es denn so einfach wäre!

Einsamkeit hat mit Ohnmacht zu tun. Nicht mehr einsam sein zu wollen, reicht eben nicht. Man muss selbst etwas tun, aber andere können das erschweren. Für Einsamkeit braucht es mindestens zwei. Meist sind Mitmenschen an Vereinsamung beteiligt. Ich denke an das Kind, über das andere spotten, den Teenager, der irgendwie nicht angesagt ist, die Studienanfängerin in der neuen Stadt, den Migranten ohne Deutschkenntnisse, den Alleinerziehenden, die Dauerpendlerin, den erfolglosen Kreativschaffenden, die überarbeitete Chefin, häuslich Pflegende, Heimbewohner, die auch unabhängig von Corona keinen Besuch empfangen, das seelisch erschöpfte Flutopfer – ihre Lebensgeschichten sind individuell. Aber Einzelne können nicht immer steuern, was zu Einsamkeit führen kann: Krankheit und Behinderung, schlechte Infrastruktur, weite Wege, Druck und Armut.

Es ist zuweilen unmöglich, in bestehende Netzwerke hineinzukommen. Einsame Menschen erleben es so, als wären ja schon alle befreundet. Es braucht Kraft, sich anzuschließen. Manchmal fehlt genau diese Kraft. Daher sollte jede authentische Gemeinschaft aktiv zu sich einladen und eine Willkommenskultur pflegen.

Das Risiko, still zu vereinsamen, bringen normale Lebensereignisse mit sich: der Schulabschluss, der Beginn von Ausbildung, Studium oder Job in einer neuen Stadt, dann der Verlust des Partners oder des Arbeitsplatzes. Manches davon sind bekannte Anlässe für eine persönliche kirchliche Segnung: Schulanfang oder -abschluss, Ehe und Tod. Ich könnte mir noch viele weitere Anlässe vorstellen, Übergänge und Abschiede: „Sei gesegnet in deiner Situation, denn du bist Teil einer Gemeinschaft der von Gott Gesehenen. Gott gibt dich nie auf.“ 

Der Glaube an Jesus Christus trägt durch einsame Zeiten. Sein Kreuz ist Sinnbild für Ohnmacht und Einsamkeit. Es steht zugleich für die Gemeinschaft mit Gott und unter denen, die Einsamkeit und Trennung hinter sich lassen. Paradoxerweise hilft Einsamen das Vertrauen zu Jesus, der selbst Einsamkeit durchlitten hat. Es ist eine Solidargemeinschaft, die trägt, tröstet und Kraft gibt.

Text: Pfarrer Christof Bleckmann (Andacht im Solinger Tageblatt, 8.7.2022), Foto: Wodika / Der Gemeindebrief