Sommerpredigtreihe Friedrich Schleiermacher

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

Steht in der Reihe von Calvin, Luther, Bonhoeffer, Karl Barth. Karl Barth selbst hat über ihn gesagt: An die Spitze der der Theologie der neuesten Zeit gehört und wird für alle Zeiten gehören der Name Schleiermacher und keiner neben ihm. Und, obwohl er ihn sehr kritisch analysiert kann er sagen: Wir haben es mit einem Heros zu tun, wie sie der Theologie nur selten geschenkt wird. 

Wikipedia: Er war nicht nur evangelischer  Theologe, sondern auch AltphilologePhilosoph,  PublizistStaatstheoretiker, Kirchenpolitiker und Pädagoge. In mehreren dieser Wirkfelder wird er zu den wichtigsten Autoren seiner Zeit, in einigen auch zu den Klassikern der Disziplin überhaupt gerechnet. Er übersetzte die Werke Platons ins Deutsche und gilt als Begründer der modernen Hermeneutik (Kunst des Verstehens)

Vorab: Im folgenden hab ich mich sehr stark an einen Vortrag von Thorsten Dietz orientiert (Worthaus: Glaube und Gefühl); Übersetzungshilfe!  Schleiermachers Ausführungen sprachlich schwer zu verstehen.

Nun zu ihm: Einleitend und zusammenfassend kann man sagen: Schleiermacher war wie kein anderer Theologe in seiner Zeit im Gespräch mit seiner Zeit. Er war im starken Dialog mit den modernen Denkern der damalige Zeit. 

Sein Grundthema Gefühle sind wesentlich für den Glauben. Und Frömmigkeit ist eine Bestimmtheit des Gefühls. Es ist das Zentrum. Das Gefühl ist das Bestimmende des Glaubens. Gefühle fußen auf Sinnlichkeit und Wahrnehmung – er sagt: auf Anschauung.

Das ist für reformierte Ohren gewöhnungsbedürftig – allein das Wort hier von der Mitte der Kirche der Kanzel.

Zunächst zu seiner Vita: 1768 geb. – 1834 Tot – Irre Zeit: Goethe, Schiller – und zwar live dabei. Frankreich Revolution, Napoleon, spannende Zeit.

Vater war reformierter Pfarrer – hätte Spaß an dieser Kirche, später Herrnhuter Pietismus: Losungen: Zinsendorf. Die Welt mit ihrer Aufklärung für Vatern: ganz schlimm. Der kleine Friedrich: Herrnhuter Schule und auch zum Theologiestudium: eine Herr:nhuter Schule: Alles ganz fromm. Aufklärung: böse.

Er gerät in Schwierigkeiten. Einerseits muss man tief fühlen: so eine tiefe Freudigkeit: man weint, wenn die Leiden Jesu beschrieben werden. Und wenn nicht, ist man nicht fromm genug und außerdem muss man glauben: Jesus: wahrer Gott- wahrer Mensch-  für uns gestorben, stellvertretendes Strafleiden und vieles Mehr: er stellte dazu viele Fragen: ich versteh das nicht so ganz. Antwort: darf man nicht hinterfragen – Es ist eben Geheimnis:

Ich selbst, wenn du Theologie studierst fällst du vom Glauben ab – schlimm. Und genau das sagt ihm auch sein Vater, als er ihm schreibt, dass er Fragen hat. Lies bloß nicht religionskritische Bücher – gehörten eigentlich in den Giftschrank. Nichts was Zweifel sät, weg damit – führt weg vom Herrn. Einmal falsches Buch gelesen, falscher Podcast…. Finger weg.

Schleiermacher antwortet: ich brauche Antworten –und er will weg von Herrenhut. Ich will nach Halle – zur Uni. Entzieh mir nicht den Segen und die finanzielle Unterstützung.

Vater is not amused. Du hast dich abgewandt vom Herrn, hast alles verraten, was wir dir beigebracht haben: persönl. Bruch: die beiden sehen sich nie wieder, auch wenn er sich seinem Vater verbunden wusste. Schleiermacher liest alles: Kant und andere verbotenen Bücher: Spinoza. Lessing. Er marschiert durch – ohne Gott. Wir befinden uns in den 90er Jahren: Mozart, Fichte, Schelling, Hegel, Voltaire…. Zeit der Romantiker. Er liest die nicht nur sondern erlebt sie: Er lebt mit Schlegel in einer WG.  Ab 1796 war er so nebenbei Prediger an der Charité in Berlin. Das Nachtleben fand im Salon oder in der Mittwochgesellschaft statt: romantische Literaturkreise. Lyrik: man diskutiert und tauscht sich aus: oh eine neuer Brief von Goethe, Musik, viel trinken: am nächsten späten Nachmittag bevor Aldi zumacht, steht man auf.

Schleiermacher kann gut mitdiskutieren: Und man sagt ihm: du bist ein schlauer Kopf aber wir haben noch nichts von dir gelesen. Eine kleine Herausforderung. Und er beginnt sich in dieser Zeit mit Religion zu beschäftigen: Es gab eine Phase ohne Gott, aber nicht ohne Religion , es hat mich wieder eingeholt: 1798/99 Reden über die Religion. Alle lesen sie – auch Goethe (Hausgott). Alle fanden es wichtig. Manche fanden es toll (Novalis).

Mal im Kurzlauf: Er wird 1804 in Halle Prof. und später Neubegründung der Berliner Uni: führender Theologe der reformierten Theologie (Glaubenslehre 1823 – wichtigste theol, Werk): Zwischen Calvins Institutio und K. Barhs Kichl. Dogmatik ist es das theolg. Werk schlechthin. Ab 1817 als Präses der Vereinigten Berliner Synode, der an vorderster Stelle für die Einführung einer presbyterial-synodalen  Kirchenverfassung kämpfte (Konflikte mit Friedrich Wilhelm dem 2.- der wollte das nicht: zu wenig preußsich -zu demokratisch) Schleiermacher  wurde sogar aufgrund seiner kritischen Haltung zeitweise von der Polizei bespitzelt und überwacht. Interessant noch dass einer seiner Konfirmanden Otto von Bismarck hieß. Na mal sehen, was mal einer meiner Konfirmanden wird.

Um es kurz zu machen: Schleiermacher starb am 12. Februar 1834 an einer verschleppten Lungenentzündung.

Er versucht die Sprache der Intellektuellen zu sprechen zu Leuten, die der Kirche den Rücken gekehrt haben: Damals waren die Kirchen leer und die Theater voll.

Sein Text heißt: Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Religion – der christliche Glaube stand unter den gebildeten nicht hoch im Kurs. Denn es ist eine Schande, dass ihr noch richtig verstanden habt, worum es bei Religion geht. Ihr habt da was verpasst.

Was ist Religion: weder Moral (das sollst du tun und das lassen) noch Metaphysik – vernünftige  Weltanschauung (Gott, die Schöpfung und das Ende der Zeit).

Religion ist weder Denken und Handeln, sondern Anschauung, ist Gefühl, ist das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit – so sagt er später in seiner Glaubenslehre.

Religion ist Sinn und Geschmack für das Unendliche.

Und keine Bildung ohne religiöse Bildung

Religion ist nicht individualistisch – sondern Religion braucht Geselligkeit.

Kirche und Staat muss getrennt sein: Religion darf nie unter Druck geschehen. Religion braucht die: wechselseige Anregung. Brüdergemeinde und der romantische Salon prägten die Einsicht: alle dürfen in Freiheit sich äußern – ohne Zwang – ohne dass da oben diktiert was richtig oder falsch ist.  Und gerade damit legte er sich eben mit König Friedrich Wilhelm, der am liebsten die Aufklärung verboten hätte, diese ganze Religionskritik: Wir brauchen die Religion als Kit für die Gesellschaft und Kirche als moralische Instanz. Ohne den strafenden Gott, ohne den christlichen Glauben macht ja jeder was er will. Wir würden heute sagen: jo, das stimmt auch – zum gewissen Grade.

Doch er möchte den Glauben nicht verteidigen gegen das moderne Denken der Aufklärung. Kants Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit: ist gut. Es ist fatal, wenn wir Religion retten wollen, indem wir sagen: alles was in der Bibel steht, musst du glauben: da steht alles drin, was biologisch naturwissenschaftlich usw. wichtig zu wissen ist.

Und das 2. Religion ist weit mehr als Moral. Religion ist gut, weil sie zweckfrei in sich und für sich wahr ist. Nicht weil sie nützlich ist – eben als Mittel zum Zweck. Schleiermacher sagt mit I. Kant: für gutes Handeln braucht man keinen Glauben – das sagt einem schon der gesunde Menschenverstand. Auch heute: es gibt so viele Menschen, die mit Jesus nix am Hut haben und dennoch Gutes tun, einfach: ich helfe, weil ich helfen möchte…. Ist für mich selbstverständlich, ist einfach richtig. Schleiermacher: Es ist doch schlimm, wenn wir Gutes tun, nur weil Gott es will, weil ich damit vor Gott glänzen möchte, nein, sondern tue Gutes, weil es gut ist, weil es gut tut – aus Mitleid.

Das Interessante ist nun, dass er zwar einerseits gut die Erkenntnisse der Aufklärung verteidigen konnte, aber er hatte nicht wie andere Theologen das Bestreben: wir müssen die reine Vernunft und die praktische Vernunft (I. Kant)  mit dem christlichen Glauben verbinden und am besten davon herleiten. Christlicher Glaube als reine Kopfsache. 

Schleiermacher sagt: Religion ist doch keine Grübelkiste in der Birne, sondern Religion ist in erster Linie Gefühl. Der Glaube ist doch keine Vernunftgeschichte sondern eine Gefühlssache und dann beschreibt er einzelne relig. Gefühle. 

Ehrfurcht und Demut – gegenüber der Welt (Oberhausen Gasometer: Hubbard Teleskop: Blick in die Sterne und schwarzen Löcher betrachtet: Hammer!) Ich betrachte das Universum und in mir durch diese Anschauung und sinnliche Wahrnehmung wird die Ehrfrucht geweckt vor der Schöpferkraft Gottes. Eben nicht: ja – das ist ja alles auch interessant und diese Instrumente – und ja wenn man das mal mathematisch durchrechnet: alles nüchterne Erkenntnis – sondern großes Ehrfurchtsgefühl. Und diese Ehrfurcht macht andererseits demütig: gegenüber dem Weltall muss ich sagen: wer bin ich schon in diesem großen Weltall. Wir sind doch alles arme kleine Würstchen unter lauter andren armen kleinen Würstchen, nur die meisten davon sind um die Erkenntnis blind, dass sie auch nur arme kleine Würstchen sind.

Demut: als Reaktion der Ehrfrucht: = Religion – er würde mit uns heute vielleicht auch Spiritualität nennen.

Oder er nennt die Zuneigung als rel Gefühl: Grundverbundenheit mit seinen Mitmenschen.

Er nennt die Dankbarkeit als religiöses Gefühl. Wofür wir nicht alles dankbar sein können. Dieses Gefühl der Dankbarkeit ist Religion.

Oder das Gefühl des Mitleidens und Mitgefühls- der Barmherzigkeit: es tut einem leid, wenn wir Dinge sehen, die uns nachgehen – wir trauern mit.

Diese Gefühle sind alle deshalb religiös, weil man sie nur schlecht einfordern kann: jetzt sei doch mal ehrfurchtsvoll, wenn du die Alpen siehst. Oder sei doch mitleidig, sei doch mal dankbar. Das wäre nicht echt – wäre erzwungen. Nein, diese Gefühle sind religiös, weil sie es Erfahrungen der Ergriffenheit sind. Zitat: Alles Anschauen geht zurück auf einen Einfluss des Angeschauten auf den Anschauenden.

Oder: auch Zitat: Religion ist Sinn und Geschmack für das Unendliche (wir würden Gott sagen). S. redet vom Unendlichen, vom Universum. Jetzt könnte man vermuten: ja redet er da nicht so nach dem Motto: jeder darf irgendetwas Religiöses glauben – Hauptsache er und sie ist religiös in Schwingung. Irgendwie lösen ja alle Religionen auch religiöse Gefühle aus – ist doch auch gut.

Nein: Schleiermacher es gibt keine allgemeine Religion. Religion ist immer konkret. Und warum ist das Christentum die entscheidende: er bündelt alles in seiner 5. Rede. Christus und das Kreuz.

Freie Spiritualität ist ein Irrtum. Ihr denkt: frei vom kirchlichen und biblischen Denken Religion denken zu können, das bedeutet Freiheit. Irrtum: denk doch mal nach: alles was Du unter Religion denkst: ist doch letztlich geprägt von deiner Biographie, deiner christlichen Prägung, deiner Geschichte.

Das Christentum kann alle religiös wichtige Themen verknüpfen, weil es alles abdeckt: Gottheit und Menschheit: Schuld Böse und Gewalt: Liebe und Verzeihen. Im Christentum vermischen sich Verlust mit Liebe- ganz deutlich im Kreuz. Das Kreuz ist in die große Geschichte des Universums gestellt.

Christentum ist sowohl die konkreteste als auch die universellste Religion.

Was können wir von Schleiermacher mitnehmen: Die Betonung des Gefühls als eine unverfügbare Ergriffenheit. Ergriffenheit kann man nicht erzwingen. Ja, mein Glaube muss sich auch in meinen Gefühlen ausdrücken: ich lese gerade einen Krimi. Eine Frau ist total von der Rolle aus lauter Trauer über den Verlust der Ermordeten und sie streitet mit ihrem Mann, weil er sie trösten möchte – bis er ihr sagt: Was ist denn mit deinem Glauben und der Hoffnung auf das Leben nach dem Tod. Und dieser Hinweis hilft ihr sich zumindest  wieder aufzurichten.

Und sicher gibt es noch viele andere Gefühle: Gottesdienste, die Musik, der Segen, die Gemeinschaft. Sein christlicher Glaube ist auf Gemeinschaft ausgerichtet. Schleiermacher hat sicher das von Zinsendorf und Herrenhut. Ohne Gemeinschaft ist mein Glaube wie eine glühende Kohle, die man herausnimmt aus der Glut der anderen Kohlen – sie wird schnell verglimmen.

Und: Keine Angst vor Wissenschaft vor keinen vernünftigen Büchern. Immer mit dem Wissen: auch Wissenschaft liefert immer nur vorläufige Ergebnisse insbesondere bei ihren Theorien. Die Quantenmechanik – und das Beschreiben eines Atoms- letztlich der Materie muss einen eigentlich auch ehrfürchtig und demütig machen. Redliche Wissenschaftler dürften die Möglichkeit von Wunder demnach nicht ausschließen.

Zum Schluss möchte ich mich aber auch kritischen Tönen anschließen. Karl Barth sah die Gefahr, dass Schleiermacher die Wahrheit des christlichen Glaubens vom Gefühl abhängig macht. Nur das ist von Relevanz, was sich in mir – in meinen Gefühlen widerspiegelt. Doch diese Wahrheiten gelten ja auch dann, wenn ich eben nicht diese Gefühle habe. Für mich muss die Einsicht, Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit des Evangeliums Vorrang haben. Die Wahrheit des Evangeliums bestimmt dann auch meine Gefühle – aber nicht umgekehrt nicht meine Gefühle bestimmen die Wahrheit des Evangeliums.

Schließen möchte ich aber mit einem Satz Schleiermachers, der m.E. nicht aktueller sein könnte:

Sobald man die Gesellschaft nur als Mittel für den Egoismus braucht, muß alles schief und schlecht werden.
Friedrich Schleiermacher

Gehalten von Pfarrer Thomas Schorsch am 17.08.2025 in der Evangelischen Kirche Gräfrath

Bilder: www.gemeinderbrief de

Sommerpredigtreihe Dietrich Bonhoeffer

Liebe Geschwister, wie politisch darf, kann oder muss die Kirche sein? Diese Frage nach der rechten Aufgabenverteilung zwischen Kirche und Staat war für Dietrich Bonhoeffer ein Lebensthema. Er wurde 1906 in eine Familie hineingeboren, die großbürgerlich und akademisch war und die wichtige Staatsdiener wie Kirchenmänner in ihrem Stammbaum hatte. Dietrich wuchs in der Nachbarschaft mit Professorenkindern und Kindern hoher preußischer Staatsdiener auf. Sein Vater war Mediziner und Universitätsprofessor in Berlin. Zu seinen Vorfahren gehörten staatliche Juristen und staatlich-kirchliche Theologen. Bis zum ersten Weltkrieg war das Landeskirchenamt in Berlin eine preußische Regierungsbehörde. Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche galt bei der damals in Berlin dominierenden lutherischen Theologie anders als heute nicht als Gegenüber. Kirche und Staat galten als zwei sich ergänzende Instanzen, durch die Gott die Gesellschaft ordnete. Ein Grundpfeiler dieser Theologie war der Römerbrief des Apostel Paulus. Im 13. Kapitel heißt es dort: „Es gibt keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung.“ Staat und Kirche waren für die lutherische Theologie zwei Seiten der einen Medaille Obrigkeit: Für Zucht und Ordnung sorgte auf der einen Seite der Staat durch Justiz, Militär und Polizei, auf der anderen Seite die Kirche durch die Predigt von Sitte und Moral. Und indem sie darauf verwies, dass staatliches Handeln vorläufig notwendig ist, weil die Welt eben noch nicht das Paradies ist.

Für Dietrich Bonhoeffer war diese Rollenverteilung selbstverständlich, als er sich früh entschloss, Theologie zu studieren. Er war hoch intelligent und fleißig: Mit erst 21 Jahren schloss er das Studium ab: nicht nur mit dem Ersten Theologischen Examen, sondern auch mit seiner Promotion zum Doktor der Theologie. Für ihn gab es jetzt zwei Möglichkeiten: Er konnte entweder an der staatlichen Uni bleiben und wie sein Vater, Großvater und Urgroßvater eine Karriere als Universitätsprofessor anstreben. Oder er konnte sich von der Kirche praktisch zum Pfarrer ausbilden lassen. Dietrich Bonhoeffer entschied sich für – beides: Vikar und wissenschaftlicher Theologe. 1930 machte er dann wieder zwei Abschlüsse: Bei seiner Kirche legte er die Zweite Theologische Prüfung als Voraussetzung fürs Pfarramt ab. Und an der Universität seine Habilitation, also eine große wissenschaftliche Arbeit als Voraussetzung für eine Laufbahn in Lehre und Wissenschaft.

Bonhoeffer hatte es mit 24 schon sehr weit gebracht. Aber fürs Pfarramt musste er mindestens 25 sein. Also entschied er sich für ein Studiensemester an der Theologischen Fakultät in New York. Eher als Notlösung gedacht wurde dieses Jahr für Bonhoeffer prägend. In New York kam er raus aus der gelegentlichen Selbstgenügsamkeit deutscher akademischer Theologie und in Kontakt mit Vertretern der noch jungen weltweiten ökumenischen protestantischen Bewegung. Er lernte dort theologische Überlegungen kennen, die auf der Grundlage der Bibel nicht staatstragend waren, so wie er es aus Berlin kannte, sondern sozialkritisch. Er lernte christlichen Pazifismus kennen. Für ihn als deutschen von der lutherischen Theologie geprägten Theologen war das etwas Neues.

Im ersten Weltkrieg hatten Pfarrer die deutschen Waffen gesegnet. Und als junger Theologiestudent in Tübingen hatte Bonhoeffer selber noch an einer Art Wehrsportübung teilgenommen, wenn er auch mit rechtsnationalen Gedanken wenig anfangen konnte.

Noch als Vikar hatte er in einem Vortrag den Pazifismus abgelehnt und stattdessen den Kriegsdienst theologisch begründet: „Ich werde die Waffe erheben in der furchtbaren Erkenntnis, etwas Entsetzliches zu tun (…), aber die Liebe zu meinem Volk wird den Mord, wird den Krieg heiligen.“ (Bonhoeffer-Auswahl 1, 46). In New York begann Dietrich Bonhoeffer die Grundsätze lutherischer Theologie zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat, wie er sie aus Deutschland kennengelernt hatte, infrage zu stellen. Stattdessen sympathisierte er dort erstmals mit pazifistischen Gedanken und träumte sogar davon, nach Indien zu reisen, um dort Gandhi kennenzulernen.

Stattdessen kehrte der 25-Jährige 1931 wieder nach Berlin zurück: Er trat eine Stelle als Dozent an der Berliner Theologischen Fakultät an, arbeitete gleichzeitig als Studentenpfarrer und übernahm auch noch Predigtdienst und Konfirmandenunterricht in einer Berliner Arbeitergemeinde. Als wäre das noch nicht genug, hatte er sich außerdem in ein wichtiges Ehrenamt der weltweiten ökumenischen Bewegung wählen lassen. Hier pflegte er die internationalen Kontakte, die sein weiteres Leben immer stärker prägen würden.

Zuhause an der Berliner Universität erregten seine Vorlesungen Aufmerksamkeit. Nicht nur weil er im Hörsaal die Studenten mit Gebeten überraschte. Sondern vor allem weil Bonhoeffer pazifistische Positionen vertrat, während ein immer größer werdender Teil der evangelischen Theologiestudierenden mit den Nationalsozialisten sympathisierte. In einem Vortrag von 1932 vertrat der akademische Lehrer nun eine ganz andere Auffassung als noch vier Jahre zuvor der Vikar. Er widersprach vehement der inneren Aufrüstung, die im Deutschen Reich längst wieder auf dem Vormarsch war, und verlangte auch von der Kirche klaren Widerspruch: „Der heutige Krieg vernichtet Seele und Leib (…) darum muss der heutige Krieg, also der nächste Krieg, der Ächtung durch die Kirche verfallen.“ (Bonhoeffer-Auswahl 1, 140).

Am 30. Januar 1933 kommt Hitler an die Macht. Die staatliche Obrigkeit, das sind nun die Nazis. Die im März 1933 erlassene Notverordnung des Reichspräsidenten sowie das Ermächtigungsgesetz heben viele Grundrechte der Weimarer Verfassung auf. Der Nazi-Terror gegen politisch andersdenkende und gegen jüdische Menschen hat nun eine rechtliche Basis. Der Großteil der lutherisch geprägten Kirche hat damit allerdings kein Problem. In einer Predigt verleiht der Berliner Generalsuperintendent Otto Dibelius dem Nazi-Terror sogar eine theologische Rechtfertigung: „Wenn es um Leben oder Sterben der Nation geht, dann muss die staatliche Macht durchgreifend und kraftvoll eingesetzt werden (…) Wir haben von Dr. Martin Luther gelernt, dass die Kirche der staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen darf, wenn sie tut, wozu sie berufen ist. Auch dann nicht, wenn sie hart und rücksichtslos schaltet.“

Dietrich Bonhoeffer hingegen denkt angesichts dieses staatlichen Terrors und der staatlichen Unrechtspolitik gegen alle Menschen, die er als „jüdisch“ bezeichnet, darüber nach, welche Aufgaben die Kirche in einem Unrechtsstaat haben kann. In einem später veröffentlichten Vortrag vor Berliner Pfarrern argumentiert er strikt theologisch und benennt drei Handlungsmöglichkeiten für die Kirche:
Erstens habe die Kirche die Pflicht, den Staat kritisch nach der Rechtmäßigkeit seines Handelns zu fragen. Zweitens müsse die Kirche sich um alle Opfer staatlichen Unrechts kümmern, nicht nur ihre um Mitglieder der Kirche. Und wenn die Kirche erkennt, dass der Staat seiner grundlegenden Aufgabe, Recht und Ordnung für alle zu schaffen, nicht mehr nachkommt oder nachkommen will, dann müsse die Kirche schließlich drittens unmittelbar politisch handeln. Also: widersprechen oder sogar widerstehen. In dieser Situation dürfe sich die Kirche um des Schutzes der Opfer willen nicht mehr aus der Politik heraushalten.

Kirche im Widerstand gegen den Staat? Für die allermeisten Theologen klang das unerhört. Selbst in der 1933 und 34 sich gründenden Bekennenden Kirche wollen viele sich nur gegen staatliche Angriffe auf die kirchliche Unabhängigkeit wehren. Nicht aber weil man dem NS-Regime angesichts der unzähligen Menschen, die es aus rassistischen oder politischen Gründen zu Opfer einer Terrorherrschaft macht, entgegentreten wollte. Bonhoeffer sieht sich in seiner Kirche isoliert. Er zieht sich zurück und tritt eine Pfarrstelle in der deutschen Auslandsgemeinde in London an.

Doch Bonhoeffer schöpft noch einmal Hoffnung, dass die Bekennende Kirche sich entschließt, für ihre Vikare eine eigene Ausbildung ohne staatliche Aufsicht zu gründen, um sich nicht mit dem Terrorstaat zu arrangieren. Um so eine Ausbildungsstätte für angehende Pfarrer zu leiten, kehrt der 29-Jährige 1935 aus London zurück. Es gibt Morgen- und Abendandachten, Meditationszeiten, viel theologische Arbeit und zahlreiche Gespräche darüber, was es bedeuten kann, als Pfarrer in einer Kirche zu arbeiten, die nicht staatlichen Regeln, sondern Christus folgt. Bonhoeffers Antwort lautet: Nachfolge bedeutet, kompromisslos nach der Bergpredigt zu leben.

Für Bonhoeffer bedeutet das auch, dass die Kirche dem staatlichen Antisemitismus wider-sprechen und sich für dessen Opfer einzusetzen hätte. Doch diese Haltung teilen selbst in der Bekennenden Kirche längst nicht alle. Der größte Teil der Evangelischen Kirche war sowieso staatstreu oder ganz nationalsozialistisch gesinnt. Der staatliche Druck auf alle Opposition steigt auch in der Evangelischen Kirche. Käme er nicht aus einer gutvernetzten großbürger-lichen Familie, hätte ihn die Gestapo vielleicht schon längst geholt. Da kommt 1939 das Angebot, einen theologischen Lehrauftrag in New York wahrzunehmen. Bonhoeffer reist über den Atlantik. Vielleicht ein Ausweg? Freunde in den USA beschwören ihn, dort in Sicherheit vor den Nazis zu bleiben. Aber es quält sein Gewissen, im Ausland in Sicherheit zu sein, während in Deutschland seine ehemaligen Vikare staatlichem Druck ausgesetzt sind. Er hat das Gefühl, dass Christus ihn in der Heimat braucht. Und reist nach nur einem Monat wieder ab.

Zurück in Deutschland wird Dietrich Bonhoeffer zu einer Art Doppelagent. Über familiäre Beziehungen lässt er sich als Mitarbeiter des Spionagedienstes der Deutschen Wehrmacht anstellen und übernimmt Kurierdienste in ganz Europa. Öffentlich bleibt er Teil der Bekennenden Kirche und der Ökumenischen Bewegung. Letztlich aber hat er sich im Untergrund der Verschwörergruppe angeschlossen, die an einem neuen Deutschland arbeitet und am 20. Juli 1944 das fehlschlagende Attentat auf Adolf Hitler unternehmen wird. Für Bonhoeffer stellt sich nicht mehr die Frage, wie er möglichst unschuldig bleiben kann. Für ihn stellt sich nur noch die persönliche Frage, was größer ist: die Schuld des untätigen Mitansehens oder die Schuld der Mitwirkung an einem Mordkomplott gegen den Tyrannen. Bonhoeffer hat sich entschieden und ist nun Teil des militanten Widerstands gegen Hitler. Die Hoffnung, die Evangelische Kirche zum wirksamen Widerstand gegen das NS-Regime bewegen zu können, hat er aufgegeben.

Fast vier Jahre geht das so. Dann klingelt im April 1943 die Gestapo. Aber von der Verschwörung, an der Bonhoeffer beteiligt ist, wissen sie noch gar nichts. Es geht um ein paar minder schwere Vorwürfe, aber richtig Verwertbares hat die Gestapo gegen Bonhoeffer zu dem Zeitpunkt gar nicht in der Hand. Als die brutalen Verhöre der ersten Tage nichts Verwertbares ergeben, werden seine Haftbedingungen wieder gelockert: Er kann im Tegeler Gefängnis bald regelmäßig Besuch empfangen, Briefe austauschen, sich mit Literatur versorgen lassen. Und er hofft, dass die anderen Verschwörer draußen ihre Arbeit endlich vollenden und das Nazi-Regime beseitigen können. Von seiner Kirche dagegen erwartet er gar nichts mehr. Im Mai 1944 schreibt er an einen Freund: „Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein (…) Unser Christsein wird heute nur in Zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten.“ (WuE, S. 328)

Am 20. Juli 1944 scheitert das Attentat auf Hitler. Viele Verschwörer werden hingerichtet. Einige Wochen später findet die Gestapo Unterlagen, die Bonhoeffers Verstrickung in die Verschwörung zeigen. Er kommt in den berüchtigten Keller des Reichssicherheitshauptamtes. Die Haftbedingungen sind dort viel schärfer. Nur noch zwei Briefe erreichen danach die Familie. In einem schickt er seinen Silvestergruß mit den berühmten Worten „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Im Frühjahr 1945 werden Bonhoeffer und Mitgefangene nach Süden verlegt. Am 5. April befiehlt Hitler, die letzten Mitglieder der Verschwörergruppe umzubringen. Dazu gehört auch Bonhoeffer. Am 8. April hält er auf Wunsch seiner Mitgefangenen noch einmal eine Andacht. Am frühen Morgen des 9. April wird Dietrich Bonhoeffer einen Monat vor Kriegsende im bayerischen KZ Flossenbürg erhängt. Er wird nur 39 Jahre alt.

Wie politisch darf, kann oder muss also die Kirche sein? Die Antwort Bonhoeffers: Eine Kirche hat sich nicht um ihre Privilegien oder ihre eigenen Rechte zu kümmern. Sie hat sich auch nicht aus der Politik herauszuhalten. Sondern sie muss den Staat um Christi willen danach fragen, ob er überhaupt seine Daseinsberechtigung erfüllt: nämlich allen ein sicheres, menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.

Ich finde, das muss auch heute der Maßstab sein, wenn sich Kirche zu Wort meldet. Kirche darf sich nur dann als Kirche Jesu Christi verstehen, wenn sie im Sinne Jesu für die geringsten Brüder und Schwestern eintritt und sich lautstark auch für deren Würde einsetzt. In diesem Sinne muss sie auch heute manchmal politisch sein.

Bonhoeffer lehrt uns aber auch, dass Kirche nie parteipolitisch werden darf. Darum darf sie ihre Äußerungen und Einmischungen nicht von irgendwelchen parteipolitischen Programmen oder Konzepten ableiten, sondern allein von dem, was sie nach gründlicher theologischer Arbeit in Christi Namen sagen zu müssen glaubt. Und sie muss klar erkennbar machen, dass sie nichts anderes tut. Manchmal macht das Politik in der Kirche nötig. Manchmal unmöglich.

Und Dietrich Bonhoeffer zeigt uns schließlich, dass es nicht nur um die Frage geht, wie politisch die Kirche sein darf, sondern auch um die Frage, wie politisch ich als einzelner Christenmensch vielleicht werden muss. Wie politisch oder unpolitisch die Kirche spricht oder handelt, befreit mich nicht aus der Verantwortung zu entscheiden, wo ich um Christi willen selbst politisch handeln muss. Diese Entscheidung kann ziemlich schwer sein. Dazu kann ich das Gespräch mit Gott suchen. Und wenn mich dieses Gespräch dann zu einem Ergebnis führt, muss ich ggf. handeln. Einfach raushalten, womöglich nur darüber schwadronieren, was andere, die Politik oder die Kirche, besser tun sollten, ist keine Option. Nicht nur für die Kirche insgesamt, sondern auch für uns Christenmenschen als Einzelne geht es in der Politik immer um zweierlei: ums Beten und ums Tun des Gerechten. Amen.

gehalten von Pfarrer Thomas Förster am 10.08.2025 in der Gräfrather Kirche

Fotos: www. gemeindebrief.de

Sommerpredigtreihe Huldrych Zwingli

Gnade sei mit uns und Friede, von Gott, unserem Vater, und von unserem Herrn und Heiland Jesus Christus. Amen

Liebe Gemeinde! Die Kirchen in der Schweiz feierten erst 2019 ihr 500-jähriges Reformationsjubiläum. Denn in jenem Jahr wurde ihr Reformator Ulrich Zwingli, der am 1. Januar 1484 in Wildhaus in der Grafschaft Toggenburg in der Fürstabtei St. Gallen geboren wurde und damit nur wenige Wochen jünger als Martin Luther war, zum Pfarrer des einflussreichen Großmünsterstiftes nach Zürich berufen, wo er bis zu seinem Tod gewirkt hatte. Er wurde am 11. 10. 1531 als Feldprediger in der Schlacht bei Kappel am Albis, südwestlich von Zürich, gegen die katholischen Kantone von einem Gegner erschlagen, als er gerade seelsorgerlich mit einem Sterbenden betete.

Der Trailer zu einem Zwingli-Film charakterisiert eindrucksvoll die Umstände vor 500 Jahren: „Es war eine düstere Zeit, geprägt von religiösem Fanatismus und Gewalt.“ Zwingli und andere Reformer fühlten sich gerade von dem Satz Jesu aus Johannes 8, Vers 31 + 32 angesprochen: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger, und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.“

Was war für den Züricher Reformator die Wahrheit? Die Wahrheit ergab sich allein aus Gottes Wort, das er, wie übrigens auch Luther, jetzt in deutscher Sprache seiner Züricher Gemeinde verkündigen wollte. Zugleich war er der Auffassung, dass sich von nun an niemand mehr zwischen Gott und uns Menschen stellen dürfe. Diese Auffassung hielt die hierarchisch geprägte katholische Kirche für ketzerisch, denn sie war doch in jener Zeit die alleinige Institution, die das Heil der Gläubigen verwaltete und die durch ihren Papst und durch ihre Priester, aber auch durch die vielen Heiligen die wichtige Funktion eines Brückenbauers zwischen Mensch und Gott innehatte. Nicht umsonst führt der Papst auch heute noch den aus der heidnisch-römischen Religion stammenden Titel „pontifex maximus“, oberster Brückenbauer.

Wie alle reformatorischen Bewegungen wollte auch die Erneuerung Zwinglis das Evangelium, die Heilige Schrift, die im katholischen Mittelalter nur eine untergeordnete Rolle spielte, zu neuem Leben erwecken und die Bibel gewissermaßen zur Magna Charta des Glaubens machen, so wie es der englische Theologe John Wiclif schon im 14. Jahrhundert formuliert hatte.

Zwingli propagierte auch die Freiheit eines jeden Menschen, und hieraus wird sichtbar, dass die Reformation eine Emanzipationsbewegung war, die jedem Menschen die religiöse Befreiung von der mittelalterlichen Kirche ermöglichen wollte und somit für einen freien und unmittelbaren Zugang des Gläubigen zu Gott eintrat.

Wie ist es zu diesen für die damalige Zeit revolutionären Ideen gekommen? Es war die Zeit des Humanismus , der sich auf die klassische Antike mit ihrer Humanitas und ihrem Ideal eines freien und selbstbestimmten Menschen bezog, wie man sie zum Beispiel bei Cicero vorfinden konnte. Die Gebildeten hatte die ständige Bevormundung durch die katholische Kirche satt, vor allem ihre unbarmherzige und lebensbedrohende Inquisition in Bezug auf alle abweichenden Glaubenslehren. Deshalb kehrten die Humanisten zu den Quellen „ad fontes“ zurück, zu den Originaltexten, und dazu gehörte auch die Bibel, die man jetzt selber in den Ursprachen Hebräisch und Griechisch lesen wollte. Die katholische Kirche sollte von nun an nicht mehr allein die unfehlbare Auslegerin der Heiligen Schrift sein, zumal sich ihre Päpste und Priester zum allergrößten Teil selber nicht an die biblischen Vorgaben hielten und zudem meist theologisch sehr schlecht ausgebildet waren.

Ulrich Zwingli hatte seit 1502 in Basel studiert und zu Beginn des Jahres 1506 seine Ausbildung mit dem Titel „Magister Artium“ abgeschlossen. Er hatte damit eine gängige spätmittelalterliche Gelehrtenausbildung erhalten, die in erster Linie darauf ausgerichtet war, die lateinische Sprache und die üblichen philosophischen Fundamentalbegriffe zu vermitteln. Wie viele seiner Zeitgenossen wechselte Zwingli bald nach dem Magisterexamen ohne gründliches Theologiestudium in die kirchliche Praxis und wurde dann im September 1506 in Konstanz zum Priester geweiht.

Schon in seiner ersten Pfarrstelle in Glarus, die er für 10 Jahre innehatte, und auch als Priester in dem bekannten Wallfahrtsort Maria Einsiedeln, wo er von 1516–1518 vor allem die Einwohner des Tales und auch die Pilger seelsorgerlich betreuen sollte, hatte sich Zwingli intensiv mit den Schriften des sehr berühmten Humanistenfürsten Erasmus von Rotterdam auseinander gesetzt, der von 1466 bis 1536 lebte, und auch das Griechische erlernt. Erasmus hatte 1516 eine kritische Edition des griechischen Neuen Testaments veröffentlicht und war mit dieser Leistung zum führenden Humanisten seiner Zeit geworden.

Im gleichen Jahr 1516 war Zwingli dem Erasmus, der in Basel wirkte, persönlich begegnet, und dieser Humanist hatte einen überwältigenden Eindruck auf ihn gemacht, sodass er ihn mit der zutreffenden Aussage würdigte, dass keiner sich um die Heilige Schrift so verdient gemacht habe wie er. Erasmus hatte Zwingli einen neuen, befreienden Zugang zur Schrift gelehrt und ihn auf das Zentrum der Bibel, auf die Verkündigung Christi, hingewiesen.  Das Reformchristentum des Erasmus, der trotz seiner starken Kritik an der dekadenten Kirche katholisch blieb, propagierte besonders die christliche Predigt und verwahrte sich gegen ein Frömmigkeitswesen, das von kirchlichen Gesetzen und Geboten überfrachtet war und nur aus der ständigen Angst heraus praktiziert wurde, um nicht nach dem Tode wegen fehlender guter Werke unerlöst im Fegefeuer gepeinigt zu werden. Zwingli dachte zunächst ganz im Sinne des Erasmus nicht daran, das herrschende Kirchentum gewaltsam umzustürzen, sondern er wollte seine Gemeinde durch sein humanistisches Christentum sittlich verbessern und nach und nach eine geläuterte Frömmigkeit herstellen. Genauso wie Luther sah Zwingli in der Bibel die höchste Autorität. Sie ist die von Gott selbst inspirierte, irrtumslose Urkunde und als solche das Gottesgesetz, das alles Leben normieren will.

Dieser Gedanke, dass allein die Bibel die Magna Charta des Glaubens sei und über den Äußerungen des Papstes stehe, wurde schon, wie erwähnt, von dem englischen Vorreformator John Wiclif im 14. Jahrhundert vertreten, und dieses Bibel-zentrierte Denken bezahlte der böhmische Vorreformator Jan Hus auf dem Konzil zu Konstanz 1415 sogar mit seinem Leben, als er wegen seiner konsequenten biblischen Lehren als Ketzer verbrannt wurde.

Mit seinen reformkatholischen Ansichten im Sinne des Erasmus stellte Zwingli in Zürich die Predigt in den Mittelpunkt des Gottesdienstes und kritisierte die übermäßige Heiligenverehrung und prangerte das hoffärtige und wollüstige Leben der Mönche an.

Zwingli wurde auf Luther aufmerksam, als dieser auf der Leipziger Disputation im Sommer 1519 öffentlich die Irrtumslosigkeit der Konzilien bestritt und die heilsnotwendige Autorität des Papsttums leugnete. Allein die Schrift (sola scriptura) sei maßgebend, und der Papst könne und dürfe nicht der unfehlbare Ausleger dieser Schrift sein. Damit lehnte Luther kategorisch den Primat des Papstes und dessen normative Schriftauslegung ab.

Am 9. März 1522 versammelten sich am 1. Fastensonntag ungefähr ein Dutzend Leute im Hause des Züricher Buchdruckers Christoph Froschauer, und diese aßen zwei geräucherte Würste. Wenngleich Zwingli als einziger der Anwesenden nicht mitaß, um als Seelsorger eine gewisse Neutralität zu bewahren, so verfasste er im Frühjahr 1522 seine erste reformatorische Schrift: „Von Erkiesen und Freiheit der Speisen“ und machte mit Bezug auf das Neue Testament der erregten Züricher Bürgerschaft deutlich, dass es dem einzelnen freigestellt sei, in der Vorosterzeit zu fasten oder nicht. Eine Zeitschrift verglich vor kurzem die beiden reformatorischen Anlässe bei Luther und Zwingli mit der süffisanten Überschrift: „Statt Hammerschläge ein Mettwurstessen.“

Diese Fastenprovokation zog eine Untersuchung durch den Bischof von Konstanz nach sich, zu dessen Diözese auch Zürich gehörte, doch der Rat stellte sich hinter Zwingli und damit bröckelte die bischöfliche Autorität. In seiner supplicatio, einer Bittschrift an den Konstanzer Bischof Hugo, verlangte Zwingli im Sommer 1522 die Aufhebung des Zölibats und die freie Predigt des Evangeliums. Diese Eingabe erschien 2 Wochen später anonym in deutscher Sprache und appellierte auch an die politischen Instanzen, die Priesterehe zu erlauben und den Priesterfrauen und Kindern den üblichen rechtlichen Schutz zu gewähren. Die Frage der Priesterehe war mittlerweile für Zwingli selbst kein theoretisches Problem mehr, da er seit Anfang 1522 mit der gleichaltrigen Witwe Anna Reinhart in heimlicher Ehe lebte, die 1538 starb. Die öffentliche Trauung fand erst am 2. April 1524 statt und aus dieser Ehe stammten 4 Kinder.

Der Konstanzer Bischof Hugo forderte die Züricher Obrigkeit zur Einhaltung der kirchlichen Ordnung und zum Schutz der Kirche auf und bezichtigte den Reformator des Aufruhrs, der Kirchenspaltung und der Ketzerei.

Zwingli bestritt in seiner Antwort der kirchlichen Hierarchie wegen ihres verdorbenen Zustandes das Recht, in Bezug auf die Verkündigung des Evangeliums oder die kirchliche Ordnung überhaupt zu urteilen. Er meinte, das Volk könne keineswegs verführt werden, wenn es ihm darum gehe, die evangelische Lehre vorzulegen. Diese Predigt könne weder kirchenspaltend noch ketzerisch sein, da sie Christus verkündige, der das alleinige Fundament der Kirche sei. Zwingli meinte, der Bischof stehe auf der Seite der Menschenworte, die Reformgesinnten ständen auf der Seite Christi. Auf diesen schonungslosen Angriff reagierte Erasmus mit Entsetzen, und die klare und strikte Absage an die kirchliche Hierarchie wurde dann zum generellen Unterscheidungsmerkmal zwischen dem gemäßigten humanistischen Reformstreben und der eher revolutionären reformatorischen Erneuerung.

Zwingli drängte den unschlüssigen Rat zur 1. Züricher Disputation am 29. 1. 1523, wozu auch der Bischof aus Konstanz eingeladen war. Diese Disputation, für die Zwingli seine 67 Schlussreden verfasste, die als seine bedeutendste reformatorische Schrift gilt, blieb zwar ohne eigentliches Ergebnis, da der Führer der Gegner, der Konstanzer Generalvikar Johann Faber (26), der Versammlung das Recht bestritt, über die diskutierten Fragen zu entscheiden. Daher hörten die Leute des Bischofs nur zu und sollten sich nicht an der Diskussion beteiligen, sondern nur gegen diese in ihren Augen unrechtmäßige Versammlung protestieren. Aber der Rat entschied letztendlich, dass fortan alle Prediger das Evangelium zu verkündigen hätten. Somit kann man bei dieser Disputation auch von der Gründungsversammlung der evangelischen Kirche von Zürich sprechen.

In diesen Schlussreden, die Kernsätze aus Zwinglis Predigten beinhalten, machte der Reformator deutlich, dass das Evangelium die Grundlage des Glauben sei, und die Summe des Evangeliums sah er in Jesus Christus, der die Gläubigen mit seinem unschuldigen Leiden vom Tod erlöst hat. So vertrat Zwingli genau wie Luther das Prinzip des solus Christus und der sola scriptura, dass also allein Jesus Christus und allein die Bibel für den Glauben normativ seien. Mit dieser Definition lehnte Zwingli klar das kirchliche Lehramt und die unbiblischen kirchlichen Gebräuche ab und meinte: „Gott will, dass man allein auf Christus, das Haupt, hört, denn im Glauben an ihn besteht unser Heil. So lernt man, dass Lehren und Satzungen der Menschen zur Seligkeit nichts nützen.“ 

Auch in Zürich gab es im Herbst 1523 einen Bildersturm, doch Zwingli verlangte in seiner 2. Züricher Disputation vom 26. bis 28. 10. eine Beseitigung der unnützen Heiligenbilder auf geordnetem Wege durch die Obrigkeit.

Auch forderte der Reformator eine Neuordnung des Gottesdienstes mit der Beseitigung des unbiblischen Messopfers, da in ihm Christus noch einmal neu in unblutiger Weise durch die Hand der Priester für Gott geopfert werde, obwohl doch die Bibel in Johannes 3, Vers 16 genau das Gegenteil erklärt, dass nämlich Gott aus Liebe zur Welt seinen Sohn geopfert hat, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

Zwischen 1523 und 1525 wurde die Kirche in Zürich durch eine Kommission aus Pfarrern und Mitgliedern des Rates Schritt für Schritt weiter reformiert, und diese Reform bedeutete einen radikalen Bruch mit dem katholischen Kultus und der katholischen Verfassung. Nichts wurde beibehalten, was sich nicht aus der Heiligen Schrift begründen ließ.

Zum Schluss möchte ich noch einmal auf den für Zwingli und die Reformation entscheidenden Satz zurückkommen: „Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.“ Was haben Zwingli und Luther in jener Zeit des Umbruchs für Wahrheit gehalten?

Ihre Leistung liegt vor allem darin, dass sie die Wahrheit des Wortes Gottes wieder entdeckt und somit die einzigartige Bedeutung des Evangeliums erkannt haben, aus dem hervorgeht, dass allein Jesus Christus das Haupt der wahren Kirche ist. Mit der Wahrheit war auch die Freiheit verbunden, und somit wurde die Reformation eine Emanzipationsbewegung von den Fesseln der mittelalterlich katholischen Kirche, die nicht nur die Welt, sondern auch die Unterwelt regieren wollte.

Leider haben auch die Reformatoren meist nur ihre eigenen Positionen als wahr angesehen und nicht zugelassen, dass andere religiöse Gruppen sich frei entfalten konnten, wie z. B. die Täufer, die gerade von der Züricher Reformation grausam verfolgt wurden. So wurde Felix Manz, der Führer der Täuferbewegung, 1527 in der Limmat ertränkt, weil er die Kindertaufe für unbiblisch hielt

Ich schließe mit einem Satz von Sebastian Castellio, der zunächst den Genfer Theologen Johannes Calvin geschätzt hatte. Als dieser jedoch den Spanier Michael Servet, der nicht an die göttliche Dreieinigkeit glauben wollte, in Genf als Ketzer verbrennen ließ, schrieb er 1554 gegen Calvin: „Einen Menschen töten, heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten.“ Castellio vertrat die Auffassung, dass man einen Ketzer nur durch verbale Argumente und nicht mit der Todesstrafe überwinden dürfe: Die Kirche könne gegen abweichende Meinungen nur die von Paulus gemeinten geistlichen Waffen einsetzen.“ Wollen wir Gott danken, dass wir heute zwar in unterschiedlichen, aber doch versöhnten christlichen Konfessionen gemeinsam unseren christlichen Glauben bekennen und leben dürfen. Amen

gehalten am 03.08.2025 von Prädikant Dr. Holger Ueberholz in der Gräfrather Kirche

Bilder: www.gemeindebrief.de

Sommerpredigtreihe Gerhard Tersteegen

Gerhard Tersteegen trägt einen aus den Niederlanden stammenden Namen Gerrit ter Steegen, wie der Torhüter der deutschen Fußballnationalmannschaft. Gerhard Tersteegen wurde 1697 geboren im niederrheinischen Moers als Sohn eines reformierten Kaufmanns. Moers gehörte damals zum Oranischen Reich.

Er  besuchte ab 1703, also mit 6 Jahren die Lateinschule Adolfinum und lernte Hebräisch, Griechisch, Latein. Der Vater starb im selben Jahr. Die Mutter konnte Gerhard nach der Schule kein Theologiestudium bezahlen, also machte Tersteegen bei einem Verwandten in Mülheim an der Ruhr eine Lehre zum Kaufmann, mit 15. Zwei Jahre war Tersteegen als Kaufmann tätig- dann zog er sich in die Stille zurück. Er hatte eine Erweckung erlebt. Er war in einen christlichen Kreis aufgenommen worden. Er war reformiert geprägt, Glaube und Bibel waren ihm wichtig, die Vorstellung, Eigentum Gottes zu sein. Zugleich war er pietistisch geprägt, betonte den persönlichen Glauben nach einem willentlichen Entschluss, eine Liebe zu Jesus und den Glaube an die Erlösung durch Jesus am Kreuz.  Tersteegen machte es schriftlich: In einem Blutbrief dokumentierte er seine persönliche Bekehrung. Statt Tinte benutzte er sein eigenes Blut.

„Blut ist ein besonderer Saft“ – Anders als später in Goethes Faust schrieb er mit seinem Blut keinen Pakt mit dem Teufel, sondern verschrieb sich Jesus. Dieser Blutbrief entstand am Gründonnerstag 1724, da war er  26 Jahren alt: 
„Meinem Jesu! Ich verschreibe mich Dir, meinem einigen Heÿlande und Bräutigam Christo Jesu, zu Deinem völligen und ewigen Eigenthum. Ich will Dein seyn, und bleiben, so lang ich lebe, und auch nach meinem Tod. Du sollst mein Herr und Haupt seyn, und ich Dein unwürdigstes Glied. Nichts soll mir mehr werth seyn, als Deine Ehre und Dein Wohlgefallen. Ich will Dir gehorsam seyn, und Deinem Willen nachleben, so gut ich kann. Ich will Dein seyn, und bleiben, in Zeit und Ewigkeit. Amen.“

Eine Selbstverpflichtung, stürmisch und radikal. Und durchzogen von biblischen Motiven: Haupt und Glied, Gehorsam und Willen, Herr und Haupt, Leben und Tod. Mit einer Formulierung aus dem Heidelberger Katechismus verschrieb er sich zum Eigentum Christi: ich will dein sein.

Tersteegen als Mystiker

Reformierter, radikaler Pietist mit einer Distanz zu Kirche und Welt – so kann man ihn beschreiben. Das Leben stellte er sich so vor, dass man durch Bekehrung zu Jesus einen Weg geht, der wie eine Pilgerreise durchs Leben ist. Das Ziel ist die Ewigkeit nach dem eigenen Tod. Bis dahin hält man sich von weltlichen Dingen fern, sie sind Ballast. Man lebt bescheiden und still, betet viel und tut dem Nächsten Gutes. Bei allem konzentriert man sich auf Jesus. In der Gemeinschaft Gleichgesinnter geht das besser. Man lernt voneinander, auch von Beispielen christlicher Menschen, wobei deren Konfession nicht so wichtig ist. Wichtig ist, dass sie innerlich ganz bei Jesus sind. Das ist Mystik , eine innerliche Verbindung zu Gott, bei der die Grenzen fließen: „Ich in dir, du in mir, lass mich ganz verschwinden, dich nur sehn und finden“ (Gott ist gegenwärtig, EG 165,5). Man selbst wird unwichtig, die Vereinigung mit Gott ist der größte Genuss.

Tersteegen verdiente seinen Lebensunterhalt als Leineweber, später Bandwirker – in vorindustrieller Zeit ein Handwerk, das sich gut zu Hause erledigen ließ: mit einem Webrahmen Bänder flechten. Arbeiten, Gebetszeiten und Zeiten des Studiums sowie des Schreibens wechselten sich ab.

Er lebte ehelos und über 44 Jahre mit seinem Freund und Glaubensbruder Heinrich Sommer, ebenfalls Bandwirker in einem Haus  auf dem Mülheimer Kirchenhügel, das im Krieg nicht zerstört wurde und heute Heimatmuseum ist. Die nahe Petrikirche besuchte er nicht, dafür die wöchentlichen Erbauungsstunden eines von der reformierten Kirche abgewiesenen Kandidaten der Theologie, Wilhelm Hoffmann. Tersteegen übernahm Aufgaben und nach dem Tod des Leiters die Leitung. Tersteegen wirkte als Autor religiöser Schriften, Laienprediger und Lieddichter, als Übersetzer und Vermittler von spanischer, französischer und niederländischer Mystik.

Tersteegen als Dichter und Seelenführer

Die Liedersammlung „Geistliches Blumengärtlein Inniger Seelen“ aus dem Jahr 1729 ist Tersteegens am weitesten verbreitete Schrift – sie enthält viele Lieder und Gedichte.

Zu Solingen hatte Tersteegen persönliche Kontakte. Einige seiner Werke wurden von Solinger  Verlegern und Buchbindern gedruckt. ein Exemplar mit dem Titel „Brosamen“ aus der Zeit kann ich Ihnen zeigen. In Solingen hatte er Kontakt zu zwei Pfarrern und zu dem Verleger Peter Daniel Schmitz, der seine Schriften druckte. Es gab in Solingen Gruppen, die seine Erbauungsreden lasen und die er immer wieder auch einmal besuchte.

Tersteegen stand mit vielen Menschen im Briefwechsel. Als Seelsorger sprach er seine Adressaten an, manchmal wie ein Therapeut von Schwermütigen. In Mülheim gab er Erfahrungen mit Medizin und Heilkräutern an Kranke weiter. In seinem Nachlass war eine Laborausstattung.

Er selbst erkrankte an Wassersucht und starb 1769 in Mülheim an der Ruhr. Dort ist sein Grab an der Petrikirche, das Mülheimer Heimatmuseum dort ist heute das Tersteegenhaus.

Schon zu Lebzeiten gab es Freundeskreise im Bergischen Land, im Siegerland und in Krefeld. In Heiligenhaus gab es ein Gebäude, wo sich ein Freundeskreis immer wieder auch mit Tersteegen traf, eine kleine evangelische Kommunität: die Pilgerhütte Otterbeck. Unter Tersteegens Anleitung führten 8 Brüder ein gemeinsames Einsiedlerleben, ebenfalls als Weber. Tersteegen übernachtete dort auf seinen Reisen von Mülheim nach Elberfeld. Das Haus wurde im 19.Jahrhundert von Gruppen der Gemeinschaftsbewegung genutzt, aber 1969 für eine Straße zwischen Mülheim und Elberfeld abgerissen.

Eines der Zimmer in der Otterbeck wurde natürlich „Tersteegenzimmer“ genannt. Es gab auch in Mülheim ein Ausflugslokal, das „Tersteegensruh“ hieß. Es gab also nach seinem Tod eine gewisse Verehrung, die er selbst höchtswahrscheinlich befremdlich und unpassend gefunden hätte.

Tersteegens Lieder sind in evangelischen und freikirchlichen Liederbüchern, zwei auch im katholischen Gotteslob. Eine echte Perle ist ein Abend-, besser Nachtlied. Schlaflos durch die Nacht, das hört sich bei Tersteegen so an:

Liedvortrag EG 480 Nun schläfet man

Was nehmen wir von Tersteegen heute mit?

1. Der persönliche Glaube – mehr als ein nur formaler Glaube kann eine emotionale, persönlichen Aneignung des Glaubens einen Menschen prägen. Der Glaube durchdringt den Menschen. Es ist wie ein Liebesverhältnis, vertraut und sehnsüchtig zugleich. Persönlichkeit und Glaube berühren einander. Das ist pietistisch gedacht, passt zu dem Individualismus, der bis heute vielen wichtig ist.

Im Abendmahl, das wir in diesem Gottesdienst feiern, können wir und auch individuell angesprochen erleben, wir können mit unseren Sinnen schmecken und sehen, wie freundlich Gott ist.

2. Die Stille: Tersteegen hat zwar viel gedichtet und veröffentlicht: er war aber kritisch gegenüber allem Geschwätz. Auch gegenüber frommem Gerede: Dann lieber still werden, schweigen. Absehen von eigenen, noch so klugen Gedanken. Stille und Schweigen erleben heute viele Menschen beim Yoga. Immer geht es darum, zur Ruhe zu kommen, sich nicht ablenken zu lassen und andere nicht abzulenken.

3. Die Welt, von der Tersteegen sich abwendete, war von Feudalherrschaft geprägt. Das von Adligen Damen im Barock-Stil ausgestattete Kloster Saarn, der Preußen-König Friedrich II mit seinem Schloss Sanssouci– all das war Tersteegen zu aufgesetzt, vielleicht auch zu weit weg von den Sorgen derer, denen er als Seelsorger nah war. Tersteegen empfahl eine Abkehr von weltlichen Dingen. Was Tersteegen meinte, was ja keine Abkehr von den Nöten der Welt – als Seelsorger und Heiler war er diesem Teil der Welt sehr zugewandt. Gleichzeitig wendete er sich von weltlichem und kirchlichem Machtstreben ab, von oberflächlichem Schnickschnack. Wir würden das heute Achtsamkeit nennen. Sich fokussieren, nicht ablenken lassen von Dauernews, Social media und dem krampfhaften Streben nach Geld und Ansehen. Tersteegen sah und wusste besseres: Es soll nur Jesus sein. Tersteegen rät dazu, von sich selbst abzusehen. Als Seelsorger wird er dem Grübler empfehlen, von seinem Grübeln abzusehen, dem Zweifler von seinem Zweifel, dem, der wieder und wieder den Sinn sucht und nicht findet, rät er, von dieser quälenden Beschäftigung mit sich abzusehen – und nur auf Jesus zu sehen.

4. Eine kritische Bemerkung: Tersteegen macht sich selbst zuweilen sehr klein und spricht für heutige Ohren mit unangemessener Abwertung: Ich bin ein Wurm – auch das ist zwar biblisch, aber viele haben damit ja das Problem, dass sie sich selbst immer schon viel zu klein machen:  unwürdig, geringschätzig und abwertend. Das ist auch ein Problem, und wir sollten nicht mit Tersteegen kritiklos einstimmen in eine Selbstzerknirschung, die nicht passt zu der Macht der Liebe, die uns Menschen doch gilt. 

Also: ein bisschen mehr Tersteegen wagen: das heißt : mehr Gemeinschaft wagen. Mehr Kontakt wagen, mehr Zuwendung zu anderen wagen, Zuwendung zulassen. Mehr Ökumene wagen. Und: Konzentration auf das Wesentliche wagen, sich fokussieren.

Den Sinn nicht dauern ergrübeln, sondern außerhalb von sich selbst entdecken: „es soll nur Jesus sein“. Dann sortieren sich die anderen Lebensbereiche.  

Mehr Tersteegen wagen heißt auch, der Liebe im Glauben mehr Raum geben, den Glauben als eine große Liebesgeschichte sehen, die Bibel als Liebesbrief. Dann wird anderes, irdisches, vergängliches, verlierbares weniger wichtig. Die Liebe hört niemals auf.  Amen.

gehalten am 27.07.2025 von Pfarrer Christof Bleckmann

Fotos: www.gemeindebrief.de

Sommerpredigtreihe Johann Hinrich Wichern

Johann Hinrich Wichern – Theologe und Sozialpolitiker, Visionär und Pragmatiker, ein liebevoller Erzieher, nebenbei der Erfinder des Adventskranzes, vor allem aber ein engagierter Christ und nun auch Glaubensvorbild. Die Kirche verdankt ihm im 19. Jahrhundert die Wiederentdeckung ihres diakonischen Auftrags.

Er weckt die evangelische Kirche Deutschlands mit seinem sozialen Engagement aus dem Schlaf der Selbstgerechtigkeit. Und seine Botschaft ist klar und eindeutig: Taten der Liebe sind wichtiger als schöne Worte. Heute ist die evangelische Kirche ohne Herausforderungen von Nächstenliebe und Diakonie nicht mehr denkbar.

Wer war dieser Mann? Geboren 21.04.1808 – gestorben 07.04.1881 beides in Hamburg, aus einfachen Verhältnissen, 1835 Heirat mit Amanda Böhme (1810-1888) – 9 Kinder, eins verstarb früh – Gezeichnet von mehreren Schlaganfällen stirbt Wichern nach jahrelangem Leiden im Alter von 72 Jahren 1881 im Rauhen Haus in Hamburg.

Das sagt Wikipedia: Johann Hinrich Wichern war ein deutscher Theologe, Sozialpädagoge und Gefängnisreformer. Er gründete das Rauhe Haus in Hamburg und gilt als Begründer der Inneren Mission der evangelischen Kirche, als einer der Väter der deutschen Rettungshausbewegung sowie als Erfinder des Adventskranzes.

Die fett markierten Überschriften möchte ich herausgreifen, um drei Impulse aus dem reichen und vielfältigen Leben und Wirken Wicherns für uns heute fruchtbar zu machen. Ich kann und will hier kein umfassendes Lebensbild Wicherns präsentieren, sonst sind wir morgen noch nicht fertig.

Er gründete das Rauhe Haus in Hamburg

Wichern schreibt als junger Theologe Tagebuch. Und was er an einem Abend aufschreibt, macht ihm Angst und macht ihn sprachlos. In einer heruntergekommenen Wohnung in Hamburg St. Georg hat er eine verwahrloste Familie angetroffen. Alles zerlumpte, blasse Gestalten, klappernd vor Hunger und Frost. „Ich habe in traurige, ausdruckslose Augen gesehen, ohne Hoffnung auf morgen. Feuer haben sie nicht mehr gehabt seit langer Zeit. Zu essen haben sie ein Stück Brotrinde, das sie sich teilen. Was für ein Elend.“ So seine Tagebuchaufzeichnungen.

1832 ist er nach seinem Theologiestudium als frisch berufener Oberlehrer in der Sonntagsschule der evangelischen Gemeinde St. Georg eingesetzt. Mehr als 400 Kinder und Jugendliche sind hier zu betreuen. St. Georg – ein Quartier mit einer jahrzehntelangen Elendsgeschichte. Hierher hatte man schon im Mittelalter Lepra- und Pestkranke gebracht, hier stand auch der Hamburger Galgen, hier ist die Wohnungsnot besonders groß. Es ist eine lebensfeindliche, unfreundliche Gegend. Huren und Trinker machen sich dort die Nacht zum Tag. Haarsträubende Verhältnisse kommen Wichern zu Gesicht – Armut, Gewalt, Verwahrlosung. Und am meisten leiden die Kinder; es gibt keine Zukunft für sie.

Die Städtische Fürsorge ist schon seit langem vollkommen überfordert. Es scheint keinen zu interessieren. Wichern lässt das jedoch alles nicht kalt. Er sieht sich in seinem Glauben herausgefordert. Kein anderer als er selbst muss handeln, frei nach seinem Motto: „Was man will, muss man ganz wollen, halb ist es gleich nichts.“

Wichern sucht Unterstützer und findet sie. Er kann gegen eine günstige Miete eine als „Rauhes Haus“ bekannte Bauernkate erwerben und gründet im Hamburger Vorort Horn seine Anstalt „zur Rettung verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder“, die zum Jahresende 1833 mit zwölf Jungen ihre Arbeit startet. Danach wächst die Zahl der Gruppen und mit ihr der Häuser rasch an. Wicherns Ideologie ist keine der damals üblichen Straferziehung, sondern eine religiöse Erziehung in der Gemeinschaft und ein Leben mit dem Evangelium, das von Liebe und Barmherzigkeit, Vergebung und Nächstenliebe spricht. Seine Frau Amanda kümmert sich übrigens immer mit und hat später besonders auch die Mädchen im Blick.

Jedem neuen Kind sagte Wichern zu Beginn bei der Aufnahme: „Mein Kind, dir ist alles vergeben. Sieh um dich her, in was für ein Haus du aufgenommen bist. Hier ist keine Mauer, kein Graben, kein Riegel, nur mit einer schweren Kette binden wir dich hier, du magst wollen oder nicht, du magst sie zerreißen, wenn du kannst, diese heißt Liebe und ihr Maß ist Geduld. Das bieten wir dir, und was wir fordern, ist zugleich das, wozu wir dir verhelfen wollen, nämlich, dass du deinen Sinn änderst und fortan dankbare Liebe übest gegen Gott und den Menschen!“

Die tägliche Praxis – das ist es, was für Wichern zählt. Er ließ sich von der Not der Menschen anrühren. Die Stiftung Rauhes Haus ist heute mit verschiedenen Einrichtungen, Wohngruppen und Stadtteilbüros in Hamburg und Schleswig-Holstein vertreten und betreut Kinder, Jugendliche und ihre Familien, alte Menschen, geistig Behinderte und psychisch Kranke. Sie unterhält außerdem die evangelische Wichern-Schule, die Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie und die Evangelische Berufsschule für Pflege.

Begründer der Inneren Mission der evangelischen Kirche

Die Liebe gehört mir wie der Glaube – mit dieser Haltung wirkt Wichern nicht nur intern in seinen familienähnlichen Rettungshäusern, sondern auch in seine Kirche hinein. In Wichern wächst nach vielen Jahren sozialer Arbeit der Wunsch, nicht nur einzelne Menschen, sondern auch Strukturen zu verändern.

Beim Kirchentag in Wittenberg im September 1848 hält Wichern spontan eine 75-minütige leidenschaftliche Rede, die als programmatisch für die moderne Diakonie gilt. Mit seinem zentralen Satz „Die Liebe gehört mir wie der Glaube!“ ruft er die evangelische Kirche auf, sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst zu werden. Sozialarbeit gehört zur ureigenen Aufgabe der ganzen Kirche. Und er hat Erfolg. Ein deutschlandweiter „Centralausschuss für Diakonie“ wird gegründet, die Geburtsstunde der „Inneren Mission“.

Er möchte ins innere der Gemeinden wirken. Die vielen Menschen erreichen, die zwar getauft sind, und so zur Kirche gehören, aber ihre Bindung an sie verloren haben, warum auch immer. Für Wichern gehörten Glaube an Gott und Nächstenliebe, Mission und Diakonie, Erneuerung der Kirche und Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse, zusammen. Das Wort Gottes, das Evangelium von Jesus Christus, der Ruf zum Glauben waren für ihn Quelle der Kraft und der Rettung der Menschen.

Seine ersten Ziele: Kampf gegen Revolution und Armut, Betreuung der Strafgefangenen, Schutz von jungen Frauen vor der Prostitution. Jetzt ist Wichern die zentrale Figur in der Organisation und Verknüpfung diakonischer Arbeit in Deutschland. Wicherns Reformideen reichen weit über die kirchlichen Institutionen hinaus. Er wird einer der Berater für das 1849 gegründete preußische Mustergefängnis Moabit, später dessen Direktor. Er wird vom König in die Berliner Kirchenleitung berufen, gründet 1858 die diakonische Ausbildungsstätte Brüderwerk Johannesstift.

Wichern hat nicht zugesehen oder weggesehen, er hat angepackt, zugepackt. Er stand für seinen christlichen Glauben auf der Grundlage des Evangeliums und dem von Jesus Christus überlieferten sog. „Doppelgebot“ der Liebe: „Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst.“

Und das war für ihn nicht nur theologische Fachsimpelei, sondern gelebter, tätiger Glaube. Nächstenliebe und Solidarität, ja, das strahlte Johann Hinrich Wichern aus, dafür steht das Rauhe Haus noch heute: „Wir achten jeden Menschen, ungeachtet seiner Herkunft, Religion oder sozialen Stellung, als ein einmaliges und unverwechselbares Geschöpf Gottes. Wir haben Respekt vor seiner Würde und stärken seine Autonomie. Ursprung und Merkmal aller unserer Aktivitäten ist die christliche Nächstenliebe, solidarisches Engagement und die Entwicklung innovativer Angebote.“

Die Kirche muss zu den Menschen gehen!

Als Gemeinden und als Kirchenkreis ist uns heute hier in Solingen die diakonische Arbeit wichtig. Wie dankbar sind die Menschen, die ich in der Essensausgabe in Ohligs erlebe, für die warme Mahlzeit, die wir ihnen ermöglichen. Für ein gutes Wort und ein Willkommen.

Da ist die Frau, die mit Sach und Pack kommt, einfach nur müde und erschöpft wirkt. Danke, sagt sie, nachdem sie auch bei der Osterandacht mit Osterfrühstück auftaucht. Ich sollte viel öfter herkommen. Da ist der junge Mann, sichtbar betrunken, viele schlecht verheilte Wunden. Er setzt an zu erzählen, findet keine Worte. Sagt dann: Einfach nur Danke hierfür.

Die Kirche muss zu den Menschen gehen. Das hat nie an Aktualität verloren. Jesus hat es vorgemacht, er war nahe bei den Menschen. Paulus ist in alle Welt gereist, um die Liebe Gottes groß zu machen.

Heute erleben wir, dass Menschen nicht mehr hierher kommen, in unsere Gebäude und Versammlungsorte der Gemeinde. Wie viel mehr machen wir uns Gedanken darüber, wie wir zu ihnen gehen können. Und ihnen so den Zugang erleichtern und die Liebe Gottes weitersagen und geben können. Und wir erleben, dass sich 33 Menschen unter der Müngstener Brücke taufen lassen, sich jetzt schon 18 Paare für unser Hochzeitsfest im September angemeldet haben. Wir gehen neue Wege, um die Menschen zu erreichen.

Erfinder des Adventskranzes

Ja, zum Schluss, Punkt 3, was viele wissen, dass Wichern als Erfinder hinter dem Adventskranz steht. Der gehört für uns heute in jeden adventlich geschmückten Haushalt. Kirche und Gemeindehaus ziert ein Adventskranz, in Solingen hat der Adventskranz sogar gewonnen gegenüber dem Weihnachtsbaum auf dem Rathausplatz.

Wichern stellte 1839 im damaligen Betsaal auf dem Stiftungsgelände in Hamburg-Horn den ersten Adventskranz der Welt auf, ein Wagenrad mit vielen Lichtern. Anders als der heute verbreitete Kranz mit vier Kerzen, trug er für jeden Tag bis zum Heiligen Abend eine große weiße für die Sonntage und kleine rote für die Werktage. Wichern wollte die vielen Kinder im Rauhen Haus damit erfreuen und die Vorbereitungszeit auf das Weihnachtsfest sinnlich erfahrbar machen. Noch heute wird im Hamburger Rauhen Haus der traditionelle Wichern-Kranz mit – je nach Jahr – bis zu 28 Kerzen entzündet.

Wichern nahm ein Wagenrad und befestigte darauf so viele Kerzen, wie es Tage vom ersten Advent bis zum Heiligen Abend waren – anders als bei den heutigen Adventskalendern, die die Tage vom ersten Dezember bis Weihnachten zählen und dabei natürlich immer 24 Tage anzeigen. Vom ersten Advent bis Weihnachten sind es jedes Jahr unterschiedlich viele Tage – nämlich 22, wenn Heiligabend auf den vierten Adventssonntag fällt, bis höchstens 28, wenn Heiligabend am Sonnabend nach dem vierten Advent ist. 1839 waren es 24.

Einen netten Nebeneffekt hatte der Kranz auch: Die Kinder lernten auf einfache Weise das Zählen. Erst um 1860 wurde der Kranz auch mit Tannengrün geschmückt und setzte sich in evangelischen Kirchen und Privathaushalten bis Anfang des 20. Jahrhunderts allgemein durch.

1925 soll auch erstmals ein Kranz in einer katholischen Kirche in Köln gehangen haben. Spätestens ab der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg findet man ihn in aller Welt und in allen möglichen Formen. Heute gibt es Kränze aus Frottee, aus Plastik, aus Porzellan, ausklappbare Kränze für die Reise und vieles mehr. Eines haben sie alle gemeinsam: Im Gegensatz zum Wichern-Kranz stecken darauf nur noch vier Kerzen – für die Adventssonntage. Die restlichen Kerzen sind im Laufe der Zeit auf der Strecke geblieben.

Ganz zum Schluss – der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, bezeichnete Johann Hinrich Wichern als „die größte Gestalt im deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts“. Und „er hatte keine Zeit, ein großer Theologe zu werden, weil es ihn eilte, ein guter Christ zu sein“.

„Die Liebe gehört mir wie der Glaube!“ dieses Zitat von ihm aus seiner leidenschaftlichen Rede 1848 in Wittenberg (die übrigens nicht schriftlich vorliegt, da sie so spontan kam und keiner so schnell mitgeschrieben hat) zeigt, was sein Antrieb war und fasst sein Vermächtnis für heute zusammen.

Mir ist Johann Hinrich Wichern schon immer ein wichtiges Vorbild im gelebten und tätigen Glauben gewesen und durch die Vorbereitung für heute einmal mehr.

gehalten am 13.07.2024 von Diakonin Bärbel Albers

Bilder: www.gemeindebrief.de

Sommerpredigtreihe Philipp Melanchthon

Mehr als 15 Jahre wohne ich auf der Melanchthonstraße und zu meiner Schande hat es bis zur diesjährigen Sommerreihe gedauert, mich näher mit dem Reformator zu beschäftigen. Und was soll ich sagen?! Es hat sich gelohnt.

Ich habe einen weltoffenen, humanistisch geprägten Mann kennengelernt, der ein hohes Maß an Dialogfähigkeit besaß und dem bei aller Fähigkeit zum theologischen Abstrahieren das Staunen über Gott nicht verloren ging. In der Einleitung zu seinem ersten theologischen Lehrbuch – des ersten evangelischen überhaupt – schrieb er: Die Geheimnisse der Gottheit sollten wir lieber anbeten als erforschen. Aber er hieß von Haus aus hieß gar nicht Melanchthon.

Am 16. Februar 1497, noch so eben im Mittelalter, wird er als Philipp Schwarzerdt in Bretten geboren. Damals Grenzstadt zwischen der Pfalz und Baden, ist der 2.000 Seelenort immer wieder Begehrlichkeiten ausgesetzt. Und so muss Philip schon im Alter von sieben Jahren erleben, wie seine Heimatstadt zwei Wochen lang vom württembergischen Herzog belagert wird. Den Vater verliert er bereits mit 11 Jahren. Das ständige Hantieren des kurfürstlichen Rüstmeisters mit giftigen Materialien haben wohl eine schleichende Vergiftung ausgelöst. Wieder ist es der Krieg, wenn auch indirekt, der die Lebenswelt des Kindes aus den Fugen geraten lässt.

Diese Erlebnisse haben Philipp geprägt. Die Kriegsangst wird er zeit seines Lebens nicht mehr los. Immer wird er um Ausgleich bemüht sein.

Nach dem Tod des Vaters schickt die Familie ihn in eine angesehene Lateinschule nach Pforzheim. Und wie es manchmal so geht. Philipp wohnt bei einer entfernten Verwandten, die wiederum ist die Schwester von Johannes Reuchlin, eines bedeutenden humanistischen Gelehrten. Und so kommt es zur Begegnung mit dem Humanismus. Diese Geisteshaltung fällt bei dem jungen Mann auf fruchtbaren Boden: Zugang zu Bildung gehöre zur Würde des Menschen, Bildung sei ein Gradmesser für das Niveau einer Gesellschaft. Er stürzt sich auf jede Wissenschaft, lernt, begreift, ein Hochbegabter eben. 17 ist er erst, als er dann in Tübingen als Bester sein Examen abschließt. Doch nicht nur als Selbstzweck.

Er wird ein leidenschaftlicher Lehrer werden mit Blick für die Methodik des Lernen und Lehrens. Er bringt die Gründung dreiklassiger Lateinschulen voran, schreibt Lehrbücher für Studenten, erstellt Lehrpläne für die Kleinen, denn „einen Zweitklässler dürfe man nicht mit schweren, hohen Büchern wie etwa dem Römerbrief beladen“. Ja, und zum Segen oder Leidwesen manchen Schülerdaseins gründet er Oberschulen mit breit gefächertem Lehrplan: nicht nur Sprachen sondern auch Mathematik, Geschichte, Geografie. Sie wurden zum Vorbild des modernen humanistischen Gymnasiums. Für seine Verdienste um das Bildungswesen erhielt Melanchthon schon Ende des 16. Jh. den Ehrentitel „Lehrer Deutschlands“.

Johannes Reuchlin hat Philipp Schwartzerdt auch seinen neuen Namen zu verdanken. Humanisten legten sich gerne griechische oder lateinische Gelehrtennamen zu. „Schwarze Erde“ heißt auf Griechisch: Melanchthon. Im Gebrauch stellt sich der Name aber als kompliziert heraus, so dass Melanchthon sich kurzerhand nur noch Melanthon nannte. Das kann ich gut verstehen.

Wie oft ich schon Melanchthonstraße buchstabieren musste!

An einer anderen Ecke des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, an der Universität zu Wittenberg, wird 1518 ein Griechischlehrer gesucht. Der Kurfürst fragt bei Johannes Reuchlin an, doch der winkt ab und verweist auf seinen entfernten Großneffen Melanchthon, der als dann ein Jahr nach Luthers Thesenanschlag das Zentrum der reformatorischen Bewegung an der Elbe betritt.

Auf den ersten Blick reibt man sich dort die Augen: Der! Melanchthon ist nur 1,50 groß, schmächtig, hat eine dünne Stimme und einen leichten Sprachfehler. Doch nach der Antrittsvorlesung, in der er auf Latein ein humanistisches Bildungsprogramm entwirft, sind alle, auch Luther, restlos begeistert. Die beiden befruchten sich gegenseitig: Luther besucht Melanchthons Griechischunterricht, Melanchthon dessen Theologieverlesung. Bei Luther habe ich das Evangelium gelernt“, sagt der eine. „Dieser kleine Grieche übertrifft mich auch in der Theologie.“ der andere.

An dieser Stelle müssen wir unser Lutherbild zurecht rücken. Die Übersetzungsarbeit in der Wartburg fand nämlich unter tätiger Mithilfe von Melanchthon statt. Weil er Griechisch und Hebräisch einfach besser konnte. Die Lutherbibel ist eigentlich eine Luther-Melanchthon-Bibel.

Es ist bei den beiden keine einfache Männerfreundschaft. Luther, 13 Jahre älter, ließ fast nur seine Meinung gelten. Darunter hat Melanchthon oft gelitten. Aber um der Sache willen, der Reformation, hat er stets loyal an seiner Seite gestanden.

Luther wiederum wusste schon, was er an ihm hatte. In einem Brief an Melanchthon lobt er einmal dessen Dialogfähigkeit bei theologischen Auseinandersetzungen :

Er, Luther, könne nicht so leise treten. Will meinen: Ich kann nur mit dem Kopf durch die Wand.

Ein bisschen „Goldenes Blatt“ an dieser Stelle: Melanchthon lebte die ersten beiden Jahre in Wittenberg in einer Art „Studenten-WG“. Luther, da noch lediger Mönch, bereitete dies Sorge, denn möglicherweise würde Melanchthon nicht genug essen und so seine Gesundheit ruinieren. Er drängte ihn zu heiraten. Melanchthon fügte sich widerwillig und heiratete die Bürgertochter Katharina Krapp. Doch womit Luther nicht gerechnet hatte: Katharina war nicht fähig, einen Haushalt zu führen. Zum Glück besaß Melanchthon einen langjährigen Freund und Diener, der sich um Haushalt und Kindererziehung dann viele, viele Jahre kümmerte.

Jetzt wissen wir ein wenig über Melanchthon und haben immer noch nicht über sein Wirken während der Reformation gesprochen. Melanchthon hat die gesamte Reformationsgeschichte miterlebt und mitgestaltet. Er rang und stritt mit allen Größen seiner Zeit: dem Katholiken Eck, mit Zwingli, Calvin. Über dreißig Jahre ist er auf Achse im Reich, nimmt als die evangelische, theologische Instanz immer und immer wieder an Religionsgesprächen teil: Wie feiert man das Abendmahl recht?

Was bedeutet Gnade? Sollen Kinder getauft werden? Dabei ringt er nicht nur mit den Katholiken um die rechte Art des Glaubens, sondern versucht auch die auseinanderdriftenden evangelischen Strömungen zusammen zu halten.

Zum Ende hin ist er zermürbt und es herzlich leid. In seiner allerletzten Aufzeichnung führt er Gründe an, warum man den Tod nicht fürchten müsse. In einem heißt es: Du wirst befreit von aller Mühsal und der Wut der Theologen.

Eine Sache aus Melanchthons theologischem Erbe habe ich mir herausgepickt. Schon rund 10 Jahre nach Luthers Thesenanschlag bekennen sich neunzehn Länder und Städte zur neuen Lehre und wollen sich nicht mehr von der katholischen Kirche bevormunden lassen. Sie fordern: Jeder Reichsstand müsse selbst in Verantwortung vor Gott entscheiden können, ob er der Reformation folgen oder beim alten Bekenntnis bliebe solle. Die Katholiken sehen die Einheit der Kirche in Gefahr, Karl der V. die Einheit des Reiches.

Um diesen Streit zu schlichten, beruft er 1530 den Reichstag zu Augsburg ein. Und fordert die evangelische Seite auf, in der Reichsversammlung ihren Glauben darzulegen. Luther kann wegen seiner Ächtung durch den Papst Sachsen nicht verlassen. Und so finden an der Grenze in Coburg die letzten Besprechungen statt, danach ist nur noch Briefverkehr möglich.

Die Hauptverantwortung liegt nun bei Melanchthon. Von Mai bis September weilt er in Augsburg und feilt an einem Bekenntnis. Es muss sowohl die Katholiken überzeugen, als auch den verschiedenen Strömungen in den eigenen Reihen genehm sein. Es gilt Formulierungen zu finden, in denen sich jeder wiederfinden kann.

Beim Verlesen in der Reichsversammlung ist er nicht dabei, er bleibt in seiner Augsburger Herberge und weint vor Erschöpfung. All sein Herzblut hat er hineingelegt. In die „Confessio Augustana“, das Augsburger Bekenntnis.

Schon bald wird es als offizielles lutherisches Bekenntnis angesehen. Und so steht es auch in unserem Gesangbuch. Mit allem, was es zum Evangelisch sein braucht.

Ganz besonders natürlich die Ausführungen zur Rechtfertigung in Artikel 4: …Weiter wird gelehrt, dass wir Vergebung der Sünde und Gerechtigkeit vor Gott nicht durch unser Verdienst, Werk und Genugtuung erlangen können, sondern dass wir Vergebung der Sünde bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnade um Christi willen durch den Glauben

Sola Fide – Sola Gratia: Luthers Kurzformel: Allein der Glaube, allein die Gnade Ausformuliert, theologisch präzise und doch verständlich. Das konnte Melanchthon wie kein zweiter.

Mir ist ein Satz in Artikel 7 aufgefallen: „Von der Kirche“ Da heißt es u.a.: Und es ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, dass überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden, wie Paulus sagt: „Ein Leib und ein Geist, berufen zu einer Hoffnung“. Da staunt der Laie: Hab ich doch schon immer gesagt. Welch eine Einsicht!

Für die Einheit der Kirche kann Melanchthon es aushalten, wenn Gott auf unterschiedliche Art und Weise die Ehre gegeben wird. Mit dem Augsburger Bekenntnis wollte er den Laden zusammenhalten. Ziel all seines Wirkens in den dreißig Jahren war immer die Ökumene in ihrem Wortsinn.

Melanchthon wollte eine Kirche für alle Menschen. Einen Arbeitskreis christlicher Kirchen löblich, eine ökumenische Bewegung, immerhin Bewegung. Zwei Kirchen nebeneinander in versöhnter Verschiedenheit – mal mehr versöhnt, mal mehr verschieden – damit hätte ein Melanchthon sich nicht zufrieden gegeben.

Melanchthon wollte zusammenführen und zusammenhalten.

Kein Geringerer als der Theologieprofessor Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI., hielt Anfang der 60ger Jahre Melanchthonseminare. Er hoffte, durch dessen Werk die Ökumene voranbringen zu können.

In Augsburg wird die „Confessio Augustana“ abgelehnt. Was folgt sind theologische Auseinandersetzungen zuhauf, der Schmalkaldische Krieg, bis endlich 25 Jahre später wiederum in Augsburg der Religionsfriede geschlossen wird.

In diesen Jahren holten Melanchthon immer wieder seine Kindheitserlebnisse ein. Was muss das mit dem Mann gemacht haben, der doch vor allem eines wollte: Einen. Halt findet er im täglichen Gebet: immer und immer wieder für den Frieden.

Das Bild Cranachs zeigt ihn als einzigen Reformator mit gefalteten Händen. Für Melanchthon war das Gebet stete Übung und Kraftquell zugleich. Vielleicht ist das etwas, was wir von Melanchthon für den Hausgebrauch mitnehmen können: Das Beten. In Zeiten, die uns so verwirren, die belasten, die Sicherheiten in Frage stellen, die uns erschüttern, durch Krieg und Gewalt…

Melanchthon sagte: Sorge und Niedergeschlagenheit treiben mich ins Gebet, und das Gebet vertreibt Sorge und Niedergeschlagenheit.

In dem Buch „Der Bademeister ohne Himmel“ antwortet eine Krankenpflegerin auf die Frage „Warum sie bete: Beten macht Stress klein. Beten macht Stress klein. Das kann man sich vielleicht besser merken.

Am 19.4.1560 verstirbt Philipp Schwarzerdt mit 63 Jahren, sein Lieblingswort aus dem Römerbrief vor Augen: Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein.

Und davon singen wir jetzt.

gehalten von Prädikantin Monika Ruhnau am 27.07.2025

Bilder: www.gemeindebrief de

Predigt von Pfarrer Thomas Schorsch am 29. Mai 2025

Gemeinsamer Gottesdienst „Blickwechsel“ der Gemeinden Gräfrath, Wald und Ketzberg im Botanischen Garten, Fotos: Pfarrerin Christina Ziegenbalg

Und wie war das für Sie, für Euch?

Man musste ja erst mal rumschauen. Was will ich denn überhaupt sehen? Wen oder was will ich ins Visier nehmen? Wer oder was weckt meine Aufmerksamkeit? Wer oder was ist ein eyecatcher, Hingucker und zwar in einem winzigen Ausschnitt?

Wer von Euch hat denn auch in den Himmel geguckt? Manchmal liege ich draußen auf dem Rücken und guck einfach in den Himmel. Ich beobachte die Bewegung der Wolken. Ich suche mir eine oder zwei Wolken aus und schau einfach zu. Sehr entspannend. Auch so eine Art „Himmelfahrt“ in Gedanken.

Die Himmelfahrt Jesu ist ja eine gewiss außergewöhnliche Form des Abschieds. Und Abschiede sind ja eigentlich immer eine traurige Angelegenheit. Ok, als sich der Spaßmacher Thomas Müller als Spieler von Bayern München verabschiedete, war das fast schon eine feuchtfröhliche Angelegenheit – eine Ausnahme. Als sich Jesus von seinen Jüngern verabschiedete, war das sicher für sie erst mal traurig. Ich liebe ja die alten Winnetou-Filme und im 3. Teil stirbt ja Winnetou in den Armen von Old Shatterhand. Und Winnetou richtet sich noch etwas auf, schaut in den weiten Horizont und sagt, er würde Kirchenglocken hören und verbindet dies mit seiner Hoffnung auf das Einziehen in die ewigen Jagdgründe.

Und dann gibt es eine Reihe von Ausschnitten aus alten Filmen, Erinnerungen von Old Shatterhand an gemeinsame Erlebnisse untermalt natürlich von den bekannten Winnetou Musik. Also, wem da nicht die Tränen kommen. So ähnlich kann ich mir vorstellen waren die Jünger drauf, als Jesus sich von ihnen verabschiedete.

In Gedanken kamen ihnen Ausschnitte aus ihrem gemeinsamen Leben: Jesu fordert die Fischer auf, es nochmal raus auf die See rauszufahren zum Fischen, obwohl sie schon die ganze Nacht nichts gefangen haben. Und die Netze waren voll. Die Heilung des blinden Bartimäus. Das letzte Abendmahl. Und wie sie, die Penner, alle im Garten Gethsemane einschliefen und Jesus in der Nacht mit Fackeln und Schwertern bewaffnet einkassiert haben.

Petrus, wie er aus dem Boot auf das Wasser steigt und auf Jesus zugeht. Petrus denkt aber auch an seine Verleugnung, an das Kreuz. Und er denkt daran, wie der Auferstandene ihn den Versager in Dienst stellte. Und vieles mehr.

Und natürlich stieg in ihnen dabei Wehmut und die Frage auf: Wie soll es jetzt ohne weitergehen? Klar, sie hatten erlebt, dass Jesus nicht im Tod geblieben ist, dass er lebt: Auferstehung. Wahnsinn, was ein Wunder.

Aber jetzt will er sie doch allein lassen. Irgendwann hatte er ihnen ja gesagt, er würde wieder zu seinem Vater in den Himmel gehen. Daher nennt man das heut ja auch Vatertag. Oder? Vielleicht vertu ich mich da auch.

Bei den Jüngern überwogen Skepsis, Zweifel und Wehmut. Sie hatten ja noch nicht die Kraft aus der Höhe in sich, den Heiligen Geist. Den hat Jesus ihnen aber beim Abschied jetzt zugesprochen: Er sagt ihnen, ihr werdet Kraft empfangen, wenn der heilige Gottesgeist auf euch kommen wird. Dann werdet ihr meine Botschafter sein, verlässliche Zeugen, in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis in die letzten Winkel der Erde.«

Und nachdem er diese Ankündigung ausgesprochen hatte, da verschwindet er auch schon. Der Text drückt das sehr bildlich aus: Jesus wurde hochgehoben, und eine Wolke verbarg ihn vor ihren Augen.

Im Konfirmandenunterricht haben wir überlegt, ob man das irgendwie nachspielen kann. Manche wollten sich schon richtig hochheben lassen und aus Stoff eine Wolke nachbilden, aber das haben wir dann doch sein gelassen – zu gefährlich – vielleicht auch zu kitschig. Es klingt ja auch irgendwie sehr märchenhaft. Viel wichtiger ist, was Jesus mit seiner Himmelfahrt deutlich machen will: Ich bin zwar jetzt nicht mehr sichtbar, greifbar unter euch – ja ich bin bei meinem Vater in der unsichtbaren Welt. Aber von da aus, bin ich zugleich überall bei euch und mir ist so sagt er es laut Matthäusevangelium heißt es: gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erde. Jesus Christus herrscht als König heißt es in einem alten Klassiker. Der Theologe Karl Barth hat das am Ende seines Lebens so ausgedrückt: „Es wird regiert!“

Ja, Christus regiert und behält den Überblick über diese Welt. D.h. bei allem Wirrwarr, bei allem Unfrieden und aller Ungerechtigkeit, die wir täglich aus den Weltnachrichten zu hören kriegen: Er hält diese Welt weiter in seiner Hand. Er lässt diese Welt nicht los, behält sie mit liebenden Augen im Blick. Er behält den Überblick im Großen wie auch im Kleinen. Er sieht das große Ganze und nimmt auch dein persönliches Leben in Blick und ist für dich da.

Denn siehe ich bin bei euch alle Tage bis zum Weltenende. Ich bin da, wenn du in die Kirche oder in den botanischen Garten gehst. Ich bin da, wenn dir zum Heulen zu Mute ist und auch da, wenn du von Herzen lachen kannst. Ich bin da, wenn dir die Kräfte fehlen und auch wenn du Bäume ausreißen könntest.

Die Jünger konnten dies wahrscheinlich zunächst noch gar nicht begreifen. Diese Zusage musste erst in ihrem Leben Stück für Stück erfahrbar werden und das tat es auch – spätestens als ihnen an Pfingsten der Heilige Geist geschenkt wurde.

Diese neun Tage Zwischenzeit waren sicher nicht einfach. Irgendwie hing man noch in der Luft. Zunächst starrte man noch in den Himmel – wie erstarrt.

Es brauchte zwei Engel, um die Jünger aus ihrer Erstarrung zu lösen. Ihr Männer aus Galiläa, was steht ihr hier und schaut zum Himmel? Dieser Jesus, der jetzt von euch in die Himmelswelt aufgenommen wurde, wird wiederkommen, genauso, wie ihr ihn in die Wirklichkeit Gottes habt hinübergehen sehen.« 

Ach so, es gibt ein Wiedersehen. Was ist das denn? Alle Zeit, die jetzt folgt, ist nur Zwischenzeit. Man könnte auch sagen: auch unsere Zeit ist nur Zwischenzeit zwischen Himmelfahrt und Advent – also zwischen Abschied und Wiederkunft. Jesus kommt wieder und wird alles zurechtrücken, was jetzt noch durcheinander ist – und dann wird wirklich alles gut.

Ich bin ja immer sehr verhalten wenn bei einer Begrüßung gefragt wird: alles gut? Nee, ist es ja nicht – noch nicht. Wie kann man sagen: alles gut? Selbst wenn man selbst fit wäre und bei einem selbst es halbwegs rund läuft, es ist doch bei weitem nicht alles gut. Wenn das so wäre, hätte Jesus ihnen nicht einen Auftrag gegeben: werdet ihr meine Botschafter sein, verlässliche Zeugen, in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis in die letzten Winkel der Erde.

Und mit dieser Aussicht gebot er ihnen einen Blickwechsel. Ihr Blick wechselte weg vom Himmel zurück nach Jerusalem und d.h. zu einem Auftrag. Man könnte sagen: jetzt ging es erst richtig los. Die Erfolgsgeschichte des Christentums begann als Jesus weg war – als er nicht mehr sichtbar unter uns war, denn durch den Geist Gottes konnte er jetzt überall sein, in jedem von uns und zwar als Kraftquelle für unsere Aufgaben.

Nehmen wir noch mal das kleine Röhrchen vor das Auge. Vielleicht könntest du jetzt jemanden in den Blick nehmen, den du noch gar nicht kennst und du gehst später auf sie oder ihn zu und sagst einfach Hallo, schön, dass Du da bist.

Der Blick wechselt vom Himmel hin zum Nächsten und ich lerne meine Mitmenschen mit den liebenden Augen Gottes zusehe…. Zumindest versuche ich es. Meine Aufgabe, mein Auftrag: Gottes Liebe weitergeben, sie bezeugen durch mein Reden und durch mein Handeln – wie auch immer das jedem aussehen mag. Und jede und jeder hat eine Begabung in die Wiege gelegt bekommen, wie man das umsetzen kann – ob durch reden, kochen, reparieren, fahren, oder was auch immer.

Der schon genannte Karl Barth sagte es so: Gott begabt nicht, ohne zu berufen und er beruft nicht, ohne zu begaben.

Nach Pfingsten konnte die Jünger selbst heilen, sie konnten Menschen in Not helfen und sie zusammenführen zu einer Gemeinschaft und sie konnten beten.
Und ich bete dafür, dass wir zunächst einmal mit der Gewissheit nach Hause gehen: Gott hat mich im Blick, er ist bei mir alle Tage und zwar als sein geliebtes Kind und ich bete darum, dass es mit Gottes Kraft gar nicht so schwer fällt, Menschen in den Blick zu nehmen, denen ich was Gutes tun kann und dazu gehört auch die Fürbitte für sie und für diese Welt und das tun wir auch gleich nach dem nächsten Lied. Amen.

Predigt am 31.12.2024 von unserer Prädikantin Monika Ruhnau

Na, liebe Geschwister. wie viele Jahresrückblicke habt ihr gehört, gesehen oder gelesen?! Krisen, Unwetter, Kriege – alles wohl dosiert dargeboten – immer angereichert mit einer Wohlfühlnachricht, sportlichen Glanztaten und Königshäusern. Das klingt jetzt ein bisschen flapsig, doch die traurige Realität ist:

Solingen war immer dabei. Nach Solingen – heißt es jetzt bedeutungsschwer und alle Welt überlegt, welche Auswirkungen das furchtbare Geschehen für das Miteinander in unserer bunten Gesellschaft hat. Aber mir ging es ja auch nicht viel besser.

Hin und her gingen die Gedanken: Was heißt das für mich? Wie bin ich aufgestellt für das Miteinander! Habe ich doch unbewusste Vorurteile? Lass ich mich von Stimmungsmache beeinflussen? Zeit für den ersten Glückskeks. Der Satz lautet: Wenn man im Gegenüber nicht den Feind, sondern den Freund vermutet, kann das Leben fantastisch sein.

Dieser Ausspruch ist von Silvio Witt. Seit 2015 ist er parteiloser Oberbürgermeister in Neubrandenburg. Er formulierte den Satz im Magazin der Wochenzeitung „Die Zeit“.in der Kolumne „Was ich gerne früher gewusst hätte“. Seit 2022 muss sich Silvio Witt mit heftigem Mobbing auseinandersetzen, weil er homosexuell ist. 2023 wurde die Regenbogenfahne am Neubrandenburger Bahnhof wiederholt zerstört und einmal auch durch eine Hakenkreuzfahne ersetzt.

Mit den Stimmen der Rechtpopulisten wurde im Oktober 2024 beschlossen, die Regenbogenfahne nicht mehr aufzuhängen aus sicherheits- und ordnungspolitischen Gründen. Silvio Witt kündigte daraufhin an, sein Amt zum 1.5.2025 niederzulegen. Es sei nicht mehr möglich, konstruktiv im Stadtrat zusammenzuarbeiten. Er wolle mit dem Rücktritt auch sein familiäres Umfeld aus der Schusslinie nehmen. Verbale und moralische Grenzen seien mehrfach überschritten worden.

Und trotzdem: Wenn man im Gegenüber nicht den Feind, sondern den Freund vermutet, kann das Leben fantastisch sein. Der Satz lässt Silvio Witts Ringen erahnen, sich im politischen Geschäft das Menschsein zu bewahren und Hetze nicht mit Hetze zu beantworten. Im andern immer den Menschen zu suchen und sich nicht von negativen Einschätzungen überrollen zu lassen. Ein Hauch von Jesu Nächstenliebe durchweht den Satz. Lässt die Befreiung erahnen, die Jesus verspricht, wenn ich beginne, mich aus dem Korsett meiner Vorverurteilungen herauszuschälen.

Es ist ein Satz, den wir 2025 gut gebrauchen können. Autokraten, Hetzer, Kriegstreiber unterwandern das Miteinander auf diesem Erdenball mit einer böswilligen Energie, die ihresgleichen sucht. Da heißt es, wachsam zu bleiben und an seiner Zivilcourage zu arbeiten. Der Satz hilft dabei, offen ins Gespräch zu gehen und das Gegenüber nicht abzustempeln. Die Menschen in Neubrandenburg gingen für ihre Regenbogenfahne auf die Straße. Und der Stadtrat stimmte im November mehrheitlich dafür, die Fahne als Symbol für Vielfalt anzuerkennen.

Wir singen: Geh auf den andern zu. Zum Ich gehört ein Du, um Wir zu sagen. Leg deine Rüstung ab. Weil Gott uns Frieden gab, kannst du ihn wagen.

Olympiade in Paris, 10. August , Kugelstoßen der Frauen. Wir haben eine Medaillenhoffnung: Yemisi Ogunleye. Es regnet in Strömen, der Ring ist nass, beim ersten Versuch rutscht Yemisi weg, ungültig. Sie winkt ab, keine Panik, wird schon. Aber was geht mir der Kommentator auf den Geist. Neben der üblichen sportlichen Einordnung lässt er sich breit darüber aus, wie gläubig sie sei, jeden Tag bete, dass sie ihre Kraft aus dem Glauben schöpfe. Kann man ja ruhig mal sagen, um einem die Athletin menschlich näher zu bringen, aber die Penetranz ist schon nervig.

Der Wettkampf läuft super. Vor dem letzten Versuch ist Yemisi die Silbermedaille nicht mehr zu nehmen. Sie steigt in den Ring und lächelt! freut sich auf ihren letzten Stoß. Sammeln, Technik abrufen, drehen, stoßen: Gold, 20 Meter, weiter kommt keine. Strahlend läuft sie mit der Fahne durchs Stadion, schlägt die Glocke von Notre Dame 3mal und dann ab zum Fernsehinterview. Und natürlich: nach den Glückwünschen die Frage, sie hätte so gelöst gewirkt, ob sie denn vor dem letzten Versuch gebetet hätte. Und dann strahlt eine junge Frau in die Kamera: Ja, sie hätte Gott schon darum gebeten, ein bisschen mitzustoßen, doch letztlich, so schön es sei, diese Medaille gewonnen zu haben, sie sei gewiss: Gott liebt mich mit und ohne Medaille.

Eine Leistungssportlerin, die weiß: the winner takes it all, die liefern muss, um die volle Sportförderung zu bekommen, ist sich gewiss: Gott definiert mich nicht allein über meine Leistung, bei ihm darf ich auch verlieren. Er sieht mich als Mensch so wie ich bin, mit allen guten und auch schlechten Eigenschaften. Gott liebt mich mit und ohne Medaille. Na, wenn das kein Satz für 2025 ist.

Liebe Geschwister, das sollten wir uns öfter sagen, wenn wir in den Spiegel schauen. Wenn wir glauben, nicht genügen zu können bei dem, was man von uns fordert. Oft ist es ja auch das, was wir uns selber abverlangen. Wie enttäuscht sind wir dann von uns, wenn wir die eigene Messlatte mal wieder gerissen haben. Nein, wir müssen keine Wunder vollbringen. Gott liebt uns so, wie wir sind. Oder sagen wir mal so:

Er hat auch nichts dagegen, wenn wir uns verbessern wollen. In keiner anderen Nacht als diese, die vor uns liegt, werden so viele gute Vorsätze gefasst und Pläne geschmiedet, das Leben umzukrempeln. Vieles davon hält nur von zwölf bis Mittag. Das gehört wohl zum Menschsein dazu: Zu leicht fallen wir in den alten Trott zurück, der ist bequem, da kennen wir uns aus, immer wieder braucht es neue Anläufe.

Doch eins ist gewiss: Auf unsere Unvollkommenheit reagiert Gott nicht mit Liebesentzug. Ganz im Gegenteil: Er hatte einen Plan mit dem Kind, dessen Geburt wir vor sieben Tagen gefeiert haben. Seit Ostern ist der Weg in seine offenen Arme frei für uns. Mit und ohne Medaille. Wir brauchen ihn nur voll Vertrauen zur gehen.

Wir singen: Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus. Frei sind wir, da zu wohnen und zu gehen. Frei sind wir, ja zu sagen oder nein. Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus.

Liebe Geschwister. heute Nacht wird der Himmel voll des Lichts sein, es wird pfeifen und knallen und knistern. Und jede und jeder wird wohl kurz innehalten, mit Sekt oder ohne das Neue Jahr begrüßen und ein paar Wünsche himmelwärts schicken. Ich werde dann immer ein bisschen still, freue mich, dass wir einander noch haben, die Kinder gesund sind – ja, und das Neue Jahr?!

Da haben mir die Worte des Propheten Jesaja gut getan. Ohne Wenn und Aber, ohne ein „nur wenn die Umstände es erlauben“ oder nur nach Haushaltslage oder nur bei Sonnenschein…Nein, Jesaja sagt: Gott ist beständig. Nicht nur für die Israeliten, sondern für alle Völker, so weiß es Jesaja schon in diesen fernen Zeiten.

Vom Anbeginn an war Gott für uns Menschen da, im Hier und Heute wird er es sein und auch in Zukunft wird er sich um uns kümmern. Wir können gewiss sein: Wenn sich der Rauch des ganzen Budenzaubers verzogen hat, wird das Licht seiner Idee von Gerechtigkeit weiterstrahlen. Wir brauchen es dringend: Wo so viele um ihren Arbeitsplatz bangen, die Tafeln ihre Gaben rationieren müssen und viele leer ausgehen, Frauenhäuser zu wenig Plätze haben…

Viele kennen Gottes Idee, sie ist ja kein Geheimnis, immer wieder jagen ihr Menschen nach zum Wohle für die Schwachen in der Gemeinschaft, aber mindestens ebenso viele wissen von ihr und blenden sie nur allzu gerne aus. Nicht immer für den eigenen Vorteil, so manches Stadtsäckel ist einfach überfordert.

Ich hoffe, dass Gottes Licht der Gerechtigkeit 2025 immer mal wieder aufleuchten darf und nicht nur auf Sparflamme gestellt wird. Bleibt noch der letzte Glückskeks. Ihr kennt den Satz schon. Wir haben ihn eben gesungen:

Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Amen

Text: Monika Ruhnau

Wir trauern…

Link zur Predigt von Superindententin Ilka Werner im Trauergottesdienst am 25.08.2024 in der Stadtkirche Solingen: https://ilka-werner.de/predigt-im-trauergottesdienst-in-solingen/368/

Unser Mitgefühl gilt allen Angehörigen der Toten und den Verletzten.

Gott sei mit Ihnen.

Gebet von Präses Dr. Latzel:

Ein Gebet für die Betroffenen des Anschlags

Gott,
der Anschlag auf dem Stadtfest in Solingen macht uns fassungslos.
Uns fehlen die richtigen Worte, um unseren Schrecken, unsere Trauer, unser Entsetzen auszudrücken.
Wir trauern um die Menschen, die sinnlos ihr Leben verloren haben.
Gott,
tröste du ihre Angehörigen und sei du bei ihnen in ihrer Trauer und ihrem Schmerz.
Wir sorgen uns um die Verletzten.
Gott,
schenke du ihnen baldige Genesung und stärke die Ärzt*innen und alle, die sich jetzt um sie kümmern.
Wir leiden mit den Menschen, die diese Gewalttat mitansehen mussten.
Gott,
hilf du den Traumatisierten und uns allen, mit dieser Schreckenstat umzugehen.
Gott,
schütze die Einsatzkräfte, damit nicht weitere Menschen zu Schaden kommen.
Bitte gib uns die Kraft, zusammenzustehen und dieser menschenverachtenden Gewalt gemeinsam entgegenzutreten.
Amen.

Dem Licht Gottes Raum geben

Predigt von Oberkirchenrätin Henrike Tetz am 3.9.2023 im Festgottesdienst zum Jubiläum 150 Jahre Kirche Ketzberg:

Bibeltext: 1.Mose 28, 10-22: Jakob schaut die Himmelsleiter
10 Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran
11 und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.
12 Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.
13 Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben.
14 Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.
15 Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
16 Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!
17 Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.
18 Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf
19 und nannte die Stätte Bethel[A]; vorher aber hieß die Stadt Lus.
A) d.h. Haus Gottes.
20 Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: Wird Gott mit mir sein und mich behüten auf dem Wege, den ich reise, und mir Brot zu essen geben und Kleider anzuziehen
21 und mich mit Frieden wieder heim zu meinem Vater bringen, so soll der HERR mein Gott sein.
22 Und dieser Stein, den ich aufgerichtet habe zu einem Steinmal, soll ein Gotteshaus werden; und von allem, was du mir gibst, will ich dir den Zehnten geben.

Predigt 150 Jahre Ev. Kirche in Ketzberg 3.9.2023

Gottes Friede sei mit euch alle Zeit. Amen.

Liebe Festgemeinde,

sie hatten ein gutes Gespür, die Männer und Frauen vor 150 Jahren in der evangelischen Gemeinde Ketzberg. Sie hatten ein gutes Gespür dafür, dass sich etwas verändert, etwas anders ist und wird. Sie lebten an der Schwelle zu einer neuen Epoche – nichts geringeres– das wissen wir heute. Ob sie selbst diese Dimension erahnten? Es scheint fast so.

Früh waren sie dran mit ihren Plänen und sie waren mutig. 1871 legten sie den Grundstein für diese Kirche. Die Gemeinde wird sich verändern, sogar wachsen – da waren sie überzeugt. Der Kirchbau würde dazu beitragen; er würde den Menschen einen geistlichen Ort schenken, einen Ort der Gemeinschaft mit Gott und miteinander.

Die Entwicklungen im Bergischen Land gaben ihnen recht. In der Gegend von Gräfrath fanden viele Industrielle die richtigen Bedingungen für ihre Großvorhaben. Es war eine Zeit der Startups, der innovativen Kräfte, der Erfinder*innen und ökonomischen Visionär*innen, der Pionier*innen. Eine Seidenweberei, eine Stahlwarenfabrik, eine Süßwarenfabrik siedelten sich an, die Kommune investierte in die Infrastruktur mit einer Gasanstalt, mit Eisbahn und Straßenbahn. Es kam zugleich zu großen sozialen Verwerfungen, viele lebten in Armut und Ausbeutung.1871 war all das fast zum Greifen nah.

Sie waren findig in der evangelischen Gemeinde Ketzberg. 3000 Taler Fördermittel aus der Staatskasse des Kaisers – also fast ein Fünftel der Baukosten. Eine beachtliche Quote. Sie erkannten die Gelegenheit und ergriffen sie, investierten finanzielle Mitteln, Zeit und Kraft für ein Ziel, das sich nur erahnen und erhoffen lies.

Der Kirchbau selbst brauchte zwei Jahre – das war zügig. Doch die erhoffte Entwicklung im Ort Ketzberg war es nicht. 1871 gab es 37 Wohnhäuser mit 279 Einwohnern, 35 Jahre später 50 Wohnhäuser mit 289 Einwohnern. Die Zahlen dümpelten, dennoch ließ sich die Gemeinde nicht beirren. In der Hoffnung, dass all die eingesetzten Kräfte wirken und weite Kreise ziehen würden: der Bau, die Sanierungen, die Anschaffung einer prächtigen Altarbibel, die neuen Gottesdienstformate, die wunderbare Kirchenmusik. So viel Engagement, damit Menschen mit allen Sinnen erleben können: Dies ist Gottes Haus, hier ist die Tür zum Himmel, aufgetan um niemals wieder geschlossen zu werden.

Liebe Gemeinde, mit dieser starken Gründungsgeschichte verbinden Sie sich heute erneut, 150 Jahre später, indem Sie die Einweihung Ihrer Kirche mit einem Festgottesdienst in Erinnerung bringen. Doch eigentlich ist diese Gründungsgeschichte immer präsent. Sie kann gelesen werden in dem Schriftzug über der Kirchenpforte „Dies ist Gottes Haus“, an den Fenstern und Türen der Kirche, die weitere Worte der biblischen Verheißung aufnehmen. Sie ist verwoben mit diesem Kirchgebäude und den Menschen, die hier seit eineinhalb Jahrhunderten, als evangelische Gemeinde leben. Und sie führt uns noch weiter zurück bis zu den Glaubensvätern- und müttern in Urzeiten, in denen der Grundstein auch für unseren Glauben gelegt wurde und eine Geschichte des Heils begann, die bis zu uns und so hoffen wir, noch weit über uns hinaus reichen wird.

Die Gründungsväter und -mütter dieser Kirche sahen sich und ihr Tun, sahen ihre Vision eng verbunden mit der Vision Jakobs.

Heimatlos und auf der Flucht vor seinem Bruder stößt Jakob auf einen Ort, an dem er Ruhe findet, sogar schlafen kann. Schlafen nicht so wie Heimat- und Obdachlose, also immer ein Auge offen, wachsam und auf der Hut. Nein, diesmal wird er vom Schlaf umhüllt, damit seine Augen etwas sehen können, was ihm bis dahin verborgen war, etwas überwältigend Neues; Jakobs Augen werden im Traum geöffnet und er sieht eine Leiter, die auf der Erde steht und die bis in den Himmel reicht, er sieht Himmel und Erde verbunden, er sieht Gott und sich selbst verbunden. Nicht im Nirgendwo, sondern an genau an dem Ort, an dem Jakob sich schlafen gelegt hat; genau dort begegnen sich Gott und Jakob. Genau dort hört Jakob die große Segensverheißung, die ihm und in ihm allen Völkern der Erde gilt. „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo immer du hinziehst, und will dich wieder zurückbringen auf diesen Boden“. Dem Heimatlosen wird Heimat, dem Gejagten wird Schutz verheißen. Dieser Boden wird für ihn zum heiligen Ort, denn er befindet sich an einem Wendepunkt: Jakobs Leben erfährt durch Gott eine Wende, Jakob wendet sich Gott zu. Der Stein, auf den er sein Haupt zum Schlafen gelegt hat, bestimmt er zum Grundstein für ein Gotteshaus, dass er bauen will, wenn sich die Verheißung einer heilen Heimkehr, wenn sich der Segen erfüllt hat.

Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte und ich wusste es nicht! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus und hier ist die Tür zum Himmel.

Liebe Gemeinde, was mag die Geschichte Jakobs den Gründungsvätern- und müttern dieses Kirchgebäudes bedeutet haben? Wie sahen sie sich selbst in dieser Geschichte, wie erlebten sie sich als Teil dieser Geschichte?

Dies ist Gottes Haus – die Worte über der Kirchenpforte: Sollten sie die Heiligkeit des Gebäudes betonen, und ihre Ehrfurcht und Dankbarkeit gegenüber Gott?

War die Inschrift als Abgrenzung gegenüber weltlichen Ansprüchen gemeint?

Oder sollte sie markieren, dass dies ein schützender Ort ist, der Menschen in Nöten und Ängsten aufnimmt?

Sollte das Kirchgebäude davon erzählen, dass Gemeinschaft mit Gott auch etwas sinnlich Schönes sein kann? Dass diese Gemeinschaft Biographien umkrempeln kann?

Wurde der Grundstein gelegt in dem Vertrauen, dass Gott seine Verheißung an Jakob erfüllt hat und sein Segen gilt und wirkt, auch tausende Jahre später, auch im kleinen Ketzberg im Bergischen Land?

Schwangen auch Fragen mit: Wirst du, Gott, zu deiner Verheißung stehen? Hier und Jetzt und für die zukünftigen Generationen auf diesem Flecken Erde? Wirst Du, Gott, mit uns gehen in eine Zeit, die wir noch nicht recht deuten können? Wirst Du, Gott, unsere Pläne aufgehen lassen, diese findigen und wagemutigen Pläne?

Dies ist Gottes Haus und hier ist die Tür zum Himmel – das ist ein Satz, der ja selbst ein Wagnis ist. Beim Urvater des Glaubens Jakob – vor 150 Jahren  – und heute auch. Mit ihm riskieren Menschen etwas. Denn er beschreibt ja keine selbstevidente Tatsache. Er ist erfahrungsgesättigt, aber nicht für alle. Er ist zuversichtlich, aber macht nicht immun gegen Zweifel.

Auf jeden Fall ist der Satz dazu angetan, dass Menschen reagieren und ins Tun kommen. Wie Jakob selbst: Er steht früh am Morgen auf und nimmt den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte und richtet ihn auf zu einem Steinmal und gießt Öl darauf und nennt die Städte Bethel, das heißt Haus Gottes.

Menschen kommen ins Tun, wie die evangelischen Christinnen und Christen vor 150 Jahren: An der Schwelle zu einer neuen Epoche legten sie vertrauensvoll den Grundstein für diese Kirche und damit auch für den heutigen Lebensort der Gemeinde Ketzberg.

Menschen kommen ins Tun, so wie Sie, die Menschen dieser Gemeinde. Auch jetzt leben wir in einer Schwellenzeit, oft wird von der großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation gesprochen, die zum Greifen nah scheint. Wie sind Sie hier in Ketzberg Teil der Geschichte Jakobs, zu der auch die Geschichte der Gemeinde vor 150 Jahren gehört. Welche Visionen bewegen Sie?

Mir scheint, es ist viel in Bewegung. Die Gemeinde Ketzberg und ihre Nachbargemeinde Gräfrath wachsen zusammen – das können wir bei diesem Festtag erleben. Den Segen Gottes weiterzugeben, das motiviert Sie zu gemeinsamen innovativen Überlegungen. Kinder und junge Menschen zu begleiten und zu stärken – dafür investieren Sie viel. Bis hin zum Brückenschlagsprojekt mit der Jugendbildungsstätte Hackhauser Hof. Menschen jeden Alters feiern ihr Leben und ihren Glauben mit ihrer Musik, singen in Chören, tanzen gemeinsam. Viel Lebendigkeit!

Viel Lebendigkeit trotz geringerer Finanzmittel, dümpelnder Gemeindegliederzahlen und kleiner werdender Resonanzräume in unserer Gesellschaft.

Manche gegenwärtigen Veränderungen und Abbrüche sind bitter und verlustreich, das ist so. Aber sie weiten auch unseren Blick – über die Grenzen der eigenen Gemeinde, über die Grenzen der eigenen Kirche hinaus und lassen uns danach suchen: Wo begegnet Gott heute den Menschen? Wie öffnet er heute die Tür des Himmels und spricht zu uns? Wie will sein Segen, den er vor langer Zeit Jakob zugesprochen hat, bei uns neu werden? An vielen Ecken und Enden halten Menschen danach Ausschau, auch hier in Ketzberg und Gräfrath, wie Pionier*innen, wie Visionär*’innen, wie Erfinder*innen. Und fragen: Wirst Du, Gott, unsere Pläne aufgehen lassen, auch unsere findigen und wagemutigen Pläne? Wirst Du bei uns deinen Segen neu werden lassen?

Früh am Morgen, erzählt unsere biblische Geschichte, früh am Morgen stand Jakob auf. Als der erste Schein die Dunkelheit verdrängt, sieht Jakob sich und seine Welt in einem neuen, anderen Licht. Früh am Morgen legt er den Grundstein, als Zeichen für sein neues Leben mit Gott.

Um dieses neue, lebensschaffende Licht, von dem die Geschichte erzählt, zu sehen, wurden im Mittelalter Gotteshäuser mit großen, wunderbar farbigen Glasfenstern gebaut. So entstanden die gothischen Kathedralen, die viele bis heute faszinieren. Denn es wird, so die Vorstellung der damaligen Architekten, durch die sonnenlichtgetränkten farbigen Fenster das Göttliche sichtbar und es erfüllt den Kirchraum und die Gemeinde. Alles, was in diesem Licht ist, erstrahlt in seiner Verbindung mit Gott. Es bringt auch die Menschen zum Leuchten. So werden sie zu wunderbar farbig leuchtenden Lichtträger*innen.

Mir scheint, die besondere Bedeutung, die die Gemeinde in Ketzberg den Fenstern ihrer Kirche zugemessen hat, liegt auf dieser Ebene. „Licht ist dein Kleid“ – wird da Psalm 104 aufgenommen. Gottes Licht erschafft Lichtträger*innen. Er zündet seine Lichter in uns an, so hoffen wir. So großzügig, so fließendweit wie ein Gewandt, so strahlend hell wie Licht sein kann. Stellen Sie sich doch einmal bewusst in dieses bunte Licht in Ihrem Kirchgebäude und nehmen Sie es in sich auf, und nehmen Sie Ihre Wahrnehmungen mit nach draußen.

Geben wir diesem Licht Gottes Raum. Schirmen wir es nicht ab oder machen es klein. Und halten wir unsere Augen offen dafür, wo sein Licht überall leuchten will, in unserer Kirche, außerhalb unserer Kirche, an so vielen Orten – so weit und groß wie der Segen, den Gott Jakob zuspricht: Durch dich und deine Nachkommen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden.

Amen.

Henrike Tetz ist seit 2018 hauptamtliches Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland und als Oberkirchenrätin Leiterin der Abteilung 3 – Erziehung und Bildung. Die Theologin (Jahrgang 1963) studierte an den Universitäten Bonn, Tübingen und Oxford. Als Vikarin war sie unter anderem für die Church of England in London tätig. Nach ihrer Ordination für den Pfarrdienst in der Evangelischen Kirche im Rheinland im Jahr 1993 arbeitete sie als Schulpfarrerin in Düsseldorf. 2007 wurde Henrike Tetz Mitglied des Kreissynodalvorstands des Kirchenkreises Düsseldorf und leitete dessen Abteilung Seelsorge. 2010 wählte die Kreissynode sie zur Superintendentin. Tetz befasste sich in dieser Zeit besonders mit neuen Gemeindestrukturen, der Entwicklung des Ehrenamts und der Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie. Als Oberkirchenrätin verantwortete sie im Jahr 2019 gemeinsam mit der Evangelischen Jugend im Rheinland federführend die erste Jugendsynode zu den Themen Partizipation und Bildungsgerechtigkeit. (Quelle: EKiR)