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Predigt Quasimodogeniti 200419 Jes 40 26
Predigt Quasimodogeniti, 19. April 2020, Predigttext: Jesaja
Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. 27 Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«? 28 Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. 29 Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. 30 Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; 31 aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Sie hätten sich nicht das Leben genommen. Sie wären nicht in blanker Verzweiflung geendet. Sie wären am Leben geblieben und hätten ihr Leben gelebt. Eine Wunde, eine tiefe innere Verletzung, ein Schatten auf ihrer Seele wäre geblieben. Ihre inneren Wunden wären irgendwann verheilt, aber sie hätten Narben hinterlassen. Und an Narben darf man bekanntlich nicht rühren. Sie könnten sonst aufbrechen.
Die Rede ist von den Frauen, von Petrus und den anderen. Wäre er ihnen, wäre der Auferstandene ihnen nicht begegnet, dann wäre es so gekommen. Sie wären dann zu Menschen geworden, die uns aus unserer Zeit sehr geläufig sind, weil sie uns oft begegnen. Menschen, die sich in ihrem Leben, so, wie es nun einmal ist und wie es sich nun einmal nicht ändern lässt, eingerichtet haben und in Ruhe gelassen werden sollen. Die nicht den Fehler machen (wie sie meinen) noch irgendetwas von wem oder von was auch immer erwarten. Die man durch nichts mehr beeindrucken kann. Die in aller Stille resigniert und sich abgefunden haben, wie eine Fußballmannschaft, die hoffnungslos im Rückstand ist, aber es sind noch ein paar Minuten zu spielen bis zum Schlusspfiff.
Und genau das war auch die Stimmungslage, wie sie unter jenen Menschen herrschte, die von den babylonischen Siegern am Rande ihrer großen Hauptstadt angesiedelt worden sind. Rein äußerlich ging es ihnen ja gar nicht so schlecht. Sie wurden von den Babyloniern durch aus fair behandelt. Sie wurden ins babylonische Wirtschaftsleben integriert, sie konnten aber in ihrer eigenen Siedlung unter sich bleiben und ihre eigene Sprache, Religion und Kultur leben. Nach außen hin war das schon o. k. so.
Aber wie es tief drinnen aussah in innen, danach sollte man sie besser nicht fragen. Sie waren verletzt, verunsichert, resigniert, verbittert, desillusioniert. Sie hatten ihren Glauben verloren. Sie hatten viel gemeinsam mit den Jüngern Jesu vor ihrer Begegnung mit dem Auferstandenen und mit den Menschen aus unserer Zeit, von denen ich eben erzählt habe. Vor allem eines haben diese Menschen gemeinsamen:
Sie können sich auch ein Leben ohne Gott vorstellen. Sie können gut und gerne auf ihn verzichten. Sie sind auch ohne ihn in der Lage, ein sinnvolles Leben zu führen.
Sie müssen sich klarmachen: Wenn sie solchen Menschen begegnen, und wir alle kennen sie aus unserem Umfeld, sie sind unsere Kollegen, Nachbarn, Freunde und gehören auch zu unseren Familien – wenn sie solchen Menschen begegnen, die von sich sagen, dass sie Gott nicht brauchen, auf ihn nicht angewiesen sind, dass sie auch ohne ihn bestens klar kommen, dass sie ihn nicht vermissen, – dann sagen die zweifellos nicht die Unwahrheit. Aber sie sagen es nicht, weil ihnen irgendeine philosophische Einsicht geschenkt worden ist. Nicht, weil sie überlegen dadrüber stehen. Nicht weil ihnen ein Licht aufgegangen ist. Nicht weil sie den Durchblick haben.
Sie sagen es – und das ist jetzt wirklich wichtig – sie sagen es, weil sie enttäuscht sind. Vom Leben, von Gott, von sich selbst oder von wem auch immer. Und sie sagen es, weil sie nicht noch einmal enttäuscht werden wollen. Wer einmal enttäuscht worden ist, der heute das tiefe Bedürfnis, nicht noch einmal enttäuscht zu werden.
Das erklärt auch, warum der zweite Jesaja auf solchen Widerstand gestoßen ist. Obwohl er nichts anderes wollte als trösten, ermutigen, ermuntern, begeistern. Obwohl er nichts anderes wollte, als den Leuten zu sagen, dass Gott noch da war. Oder wieder da war. „Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.“
Lass uns damit in Ruhe, werden sie gesagt haben. Wir können das nicht mehr hören. Wir haben die Schnauze voll von sowas. Wir wollen nicht noch mal enttäuscht werden. Wir sind gebrannte Kinder. „Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«?“ Das fragt er sie. Er hat offenbar alle Mühe, seine Landsleute aus der Verbitterung, aus der tiefsitzenden Enttäuschung raus zu holen. Er redet auf sie ein. Er lässt sich nicht davon abhalten, es immer und immer wieder zu versuchen, sie zu überzeugen: „Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich.“ Die Propheten hatten damals doch auch recht, als sie den Untergang Jerusalems verkündeten. Das habt ihr doch gesehen. Und jetzt reden die Propheten wieder. Wenn ihr ihnen damals nicht geglaubt habt, so glaubt ihnen doch jetzt! „Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“
Es ist eine Menge, was er von ihnen verlangt. Die auf den Herrn harren. Nach allem was gewesen ist, ist das eigentlich zu viel. Ich kann das so gut verstehen, weil es mir auch manchmal zu viel ist. Auch mir, der ich doch vom Glauben reden soll, also vom „auf den Herrn harren“, auch mir ist es manchmal zu viel. Auch ich möchte gerne mal nicht um meine Enttäuschungen und Verletzungen drumherum reden. Auch ich weiß doch, wie das ist, wenn einen der Glaube nicht mehr hält. Wenn er einen Sprung hat oder dann nur noch Scherben übrigbleiben. Geben wir doch zu, dass wir unsere Zeitgenossen so gut verstehen, weil ein bisschen davon auch in uns steckt: Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber. Der Prophet wird das gewusst und gespürt haben. Aber er lässt sich nicht beirren, auch nicht durch die Wut, die ihm entgegenschlägt.
Heute wissen wir, dass die Worte der Propheten, vor, während und auch nach dem babylonischen Exil, eine entscheidende, ja eine Schlüsselrolle gespielt haben. Ohne sie wäre der biblische Glaube am Ende gewesen. Und dass der zweite Jesaja gehört worden ist, vielleicht nicht von allen, aber von Etlichen, darauf weist hin, dass seine Worte überliefert worden sind. Sie sind den Worten Jesajas angefügt worden, aus dessen Schule er gewissermaßen kommt und deswegen finden wir sie heute auch im Buch des Propheten Jesaja, obwohl er anderthalb Jahrhundert später als er gelebt hat. Und später ist seine Botschaft durch die Worte weiterer Propheten ergänzt worden. Und dann sind ja auch viele wirklich zurückgegangen in die Heimat. Und in Babylon selbst ist eine blühende jüdische Gemeinde entstanden, die für viele Jahrhunderte das Zentrum des Judentums gewesen ist. Der „babylonische Talmud“ ist der wichtigere und weitaus bedeutendere und auch umfangreichere als der der Jerusalemer Talmud. Und für gerade für die frühen Christen ist die Botschaft des zweiten Jesaja oder Deuterojesaja ausgesprochen wichtig gewesen, um Jesus, seine Geschichte und seine Bedeutung zu verstehen.
Und wir hören und lesen seine Worte als Menschen, die mitten unter Menschen leben, die schlicht und einfach zu müde sind, auf den Herrn zu harren – und wie sind es doch selbst auch zuweilen. Aber wissen auch, wie sehr alles, wirklich alles eben davon abhängt. Dass es Menschen gibt, die sich aufraffen, um genau das zu tun, auf den Herrn zu harren. Wir wissen inzwischen, dass wir Menschen mit der Verwaltung und Bewahrung von Gottes Schöpfung vollkommen überfordert sind. Wir müssen eingestehen, dass uns zuweilen der Glaube an Gott abhanden kommt – aber der Glaube an den Menschen ist uns doch schon längst abhanden gekommen. Welche anderen Möglichkeiten haben wir denn, als auf den Herrn zu harren? Oder sollen wir uns zynisch unserem Schicksal ergeben, weil doch eh nichts mehr retten ist? Wer, wenn nicht wir, solls denn tun, soll sich darauf einlassen und das Wagnis eingehen, auf den Herren zu harren. Wir tun das doch stellvertretend für all die anderen, die sich damit überfordert fühlen. Aber auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden – das geht eben nur, wenn wir auf den Herrn harren.
18.04.2020 Stephan Sticherling