Lebendiger Gott, ich bitte um deinen Heiligen Geist, der Ohren öffnet und ehrliche Worte finden lässt. Amen
Liebe Geschwister, Pfr. Schmidt, der mich 1970 am Mangenberg konfirmiert hat, war ein fortschrittlicher Mann. Statt langweiliger frontaler Katechismuslehre gab es Arbeitsblätter und immer wieder Gruppenarbeit. Für euch Konfirmanden das normalste der Welt. Damals ein Novum. Doch so konnten wir immer wieder die Aussagen der Bibel daraufhin abklopfen, ob sie für unser Leben und die Probleme in der Welt taugten. Mündig wollte er uns machen. Dass wir Wertmaßstäbe an die Hand bekommen, um unser Leben gestalten zu können. Da war es nur natürlich, dass er für uns nicht – wie damals noch üblich – Konfirmationssprüche aussuchte, sondern uns aufforderte, selbst zu entscheiden, welches Wort der Bibel wir mit auf den Lebensweg nehmen wollten. Von wegen mündig! Ich war völlig überfordert.
So vieles sprach mich an. Was nehmen? Außerdem hatte ich entgegen seiner Meinung so eine heilige Vorstellung. Den Spruch kann ich mir doch nicht selber aussuchen, der muss mir doch irgendwie schicksalshaft zufallen. In meiner Not kam ich auf folgende Idee: Ich wusste, dass die fettgedruckten Worte in der Bibel die besonders wichtigen waren. Also schloss ich die Augen und schlug die Bibel an irgendeiner Stelle auf.
Ich blickte auf die Seiten, Fehlanzeige, nichts in fett. Also noch mal. Und da sprang er mir ins Auge: Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. Jesaja 42, Vers 3. Also ab zu Pfr. Schmidt, wo mich ein langer Blick traf: Bist du dir sicher? Ja, das war ich. Der Spruch hatte schließlich mich gefunden und er hatte etwas tröstliches, dass man noch in den schwersten Zeiten von Gott gehalten ist. Ja, ich war mir sicher.
Und dann flackerte die Flamme meines Dochtes fröhlich im Wind: Mitarbeiterin in der Kinder- und Jugendarbeit, Freizeiten, Kindergottesdienst, das ganze Programm.
Doch nach 10 Jahren kam die Liebe, der Umzug nach Ketzberg, Hochzeit, Kinder, Kirche ade. Doch der Docht ging nicht aus. Ich trug die prägende Zeit im Herzen.
Und als die Konfirmationszeit unseres Ältesten anstand, war klar, das geht nur mit Gottesdienstbesuchen und Teilnahme am Gemeindeleben. Das Kind soll ja schließlich wissen, worum es geht, mündig werden! Für mich gab es da eine Überraschung:
Die Passage aus dem Jesajabuch ist Predigttext in der Epiphaniaszeit und so lief mir mein Konfirmationsspruch in schöner Regelmäßigkeit immer wieder über den Weg und fand mich erneut. Doch nicht nur das, Gott holte den Blasebalg heraus, ich fing richtig Feuer: Presbyterium, Ausschüsse, Synode, Kirchenkreisarbeit, Besuchsdienst, Ausbildung zur Prädikantin, Gottesdienste. Mir war nichts zu hoch, nichts zu weit. Aber dann tauchten vor acht Jahren ominöse Schmerzen auf, die Diagnose gestaltete sich schwierig. Und so hörte der Schmerz trotz OP nicht auf, bestimmte meinen Alltag. Das Rohr knickte ein, nichts ging mehr. Ich musste mein Engagement drastisch zurückschrauben und fühlte mich völlig nutzlos. Doch da gab es meinen Spruch.
Er hielt die Hoffnung wach und ich war gewiss: Gott verlässt dich nicht, er hält dich mit seinen schützenden Händen. Das Rohr ist geknickt, aber es wird nicht brechen.
Es wird einen Weg geben. Und es gab ihn. Viele Menschen, jeder auf seine Weise, haben mir geholfen. Und das Rohr konnte sich peu à peu aufrichten. Ein Knick wird bleiben. Denn mein Gedächtnis hat den Schmerz gelernt wie Fahrradfahren und zeigt mir das immer mal wieder. Doch dann denke ich an meinen Spruch.
Der pubertäre Zufallsgenerator hätte es nicht besser treffen können.
Und jetzt stehe ich hier als geknicktes Rohr und habe die Predigtaufgabe Jesaja 42, 3. Und was der Konfirmandin egal war, das interessiert nun die Prädikantin:
Wer ist eigentlich Jesaja? Wie ist der Zusammenhang? Und von wem ist die Rede?
Liebe Geschwister, ich erlebte eine Überraschung. Den einen Propheten Jesaja gibt es nicht. Das Buch ist kunstvoll zusammengesetzt und überwindet mehrere Jahrhunderte. Drei verschiedene Schreiber hat man entdeckt. Mein Jesaja ist der 2. und lebt mit den Israeliten in der Gefangenschaft in Babylon ungefähr 550 v. Chr. Die Zerstörung Jerusalems und die Verschleppung aus Israel ist schon solange her, dass keiner mehr realistisch an eine Rückkehr glaubt. Die Erinnerungen sind von Generation zu Generation blasser geworden. In diese Situation hinein ereilt Jesaja Gottes Ruf.
Er ist verblüfft und unsicher und fragt: Was soll ich predigen? Wir haben doch keine Hoffnung mehr! Und Gott spricht zu ihm: Tröste, tröste mein Volk. Rede freundlich mit ihnen und sage ihnen, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat. Und das tut Jesaja dann auch. 15 Kapitel sind es geworden: Das Trostbuch von der Erlösung Israels.
Mit herrlichen Bildern beschwört er die unvergleichliche Größe des Gottes Israels herauf, der die Welt erschaffen hat, der Fürsten und Richter in ihre Schranken weist, dessen Gerechtigkeit den Armen zu ihrem Recht verhilft und der den Müden Kraft
und den Unvermögenden Stärke gibt. Um dann im 42. Kapitel ganz konkret zu werden: Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen., bis er auf Erden das Recht aufrichte.
Mein Knecht – Es scheint sich vordergründig auf eine Person zuzuspitzen.
Doch wer ist gemeint? Jesaja? Ein anderer? Liebe Geschwister, der Text schillert.
Ich wage nicht mich festzulegen. Da ist zum einen, dass sich Historie und Prophetie gegenseitig in die Karten spielen. Der Perserkönig Kyros tritt auf den Plan und man hofft auf einen Sieg über die Babylonier. Denn er scheint toleranter in Religionsfragen zu sein . Und so kommt es denn auch. Er besiegt die Babylonier und erlässt 538 v.Chr. ein Edikt, dass die Israeliten nach Jerusalem zurückkehren können.
Wie naheliegend wäre diese Deutung!
70 Jahre n.Chr. geht dem Schreiber des Matthäusevangeliums das Herz über.
Mit diesem Knecht kann nur Jesus gemeint sein. Sein göttlicher Auftrag und die Art und Weise seines Wirkens lassen nur diesen Schluss zu. Und so zitiert er Jesaja bei Jesu Taufe: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und übernimmt an einer weiteren Stelle die gesamte Passage, um zu zeigen: Durch Jesu Auftreten ist das Jesajawort erfüllt worden. Und so haben wir Christen dann jahrhundertelang die Verse des Jesajabuches auch gelesen: Als eindeutigen Hinweis auf Jesus. Doch so ist es nicht. Mit Knecht kann auch Israel selbst gemeint sein. Beim Propheten Hesekiel heißt es: Ich will meinen Geist in euch geben, dass ihr meine Rechte haltet und danach tut. Israels Wirken – ein Beispiel für Gottes Güte, Treue und Gerechtigkeit. Der Text bleibt offen in seiner Deutung. Das sollten wir immer bedenken. Unser Glaube darf ihn auf Jesus deuten. Aber ohne daraus einen Absolutheitsanspruch zu machen.
Doch nun genug gelernt. Wenn wir uns zu sehr damit beschäftigen, wie es denn nun genau gemeint ist, verpassen wir das Beste. Nämlich das, was Gott uns mit dem Jesajawort sagen möchte. Gott hat etwas vor. In der Schriftlesung hörten wir es eben: Siehe, ich mache alles neu. Einen neuen Himmel, eine neue Erde wird es geben und dann werde ich bei euch wohnen. Es klingt wie ein fabulöser Traum. Doch Gott weiß, wie er Wirklichkeit werden kann. Er wird sein Recht auf Erden aufrichten.
Das Recht, 4mal kommt es im Text vor. Etwas wichtigeres als das gibt es für Gott nicht. Leben und gelungenes Miteinander ist für ihn nicht möglich ohne Recht.
Doch was ist das: Recht? Erstmal ist es ein abstrakter Begriff. Ob es dem Wohle der Menschen dient, zeigt sich erst, wenn es mit Leben erfüllt wird. Auch ein autoritärer Staat behauptet von sich, ein Rechtwesen zu besitzen. Und dann werden Menschen einfach ohne Angaben von Gründen inhaftiert und gefoltert. Oder einfach ihres Besitzes enteignet und so ihrer Lebensgrundlage beraubt.
In Deutschland ist das Rechtssystem ganz schön ausgeklügelt. Keiner soll zu kurz kommen, jeder soll gleich behandelt werden, Strafen angemessen sein. Doch immer wieder reiben wir uns die Augen und verstehen Entscheidungen nicht, empfinden sie als ungerecht. Ganz schön schwer, es allen recht zu machen.
Wenn Gott durch Jesaja von Recht spricht, dann meint er Gerechtigkeit. Jetzt könnte man sagen, dass tun wir doch auch. Man spricht von sozialer Gerechtigkeit, von Bildungsgerechtigkeit, bei den Geschlechtern soll es gerecht zugehen und sofort.
Doch Gott setzt bei der Gerechtigkeit grundlegend anders an als wir. Er setzt an beim glimmenden Docht und beim geknickten Rohr. Gott setzt kompromisslos immer bei den Schwächsten an. Bei denen, die trotz allem Abstrampeln nicht genug zum Leben verdienen. Bei denen, deren geistige Fähigkeiten in einer leistungsorientierten Gesellschaft nie mithalten werden. Bei den Alten, die nach vollbrachter Lebensleistung nur noch zur Last fallen, bei den Kindern, deren benötigter Platz zur Entfaltung in kein Sparkorsett passt. Bei denen, die fliehen vor Hunger, Unterdrückung, Krieg und Hilfe, Schutz und Behausung suchen. Bei denen, die ausgrenzt werden, weil Herkunft, sexuelle Orientierung, Hautfarbe oder was auch immer, nicht ins Weltbild passen.
Bei Gott muss sich jeder Gesetzesparagraph, jede Verordnung, jeder Haushaltsplan an den Schwächsten orientieren. Sie gilt es zu schützen und ihnen eine Lebensgrundlage zu geben. Erst dann ist Leben und gelungenes Miteinander für Gott gewährleistet. Menschen sollen sich sicher sein können, dass ihnen nicht noch der Rest gegeben wird. Sondern sie in einem Klima leben, dass ihrem Docht die Chance gibt, zu flackern, ihrem Rohr die Möglichkeit, sich wieder aufzurichten.
Liebe Geschwister, wo ich als Konfirmandin einfach das tröstende Wort schön fand, erkenne ich nun als Prädikantin die politische Brisanz der Zeilen. Ich kenne keine Regierung der Welt, die sich traut, diesen Plan umzusetzen. Zu groß ist der Einfluss derer, denen es gut geht, die sich eingerichtet haben, die ihre Besitzstände wahren möchten. Doch wie ändern? Was braucht es für Menschen? Jesaja beschreibt einen:
Treu und beständig trägt er das Recht voraus und wird sich dafür einsetzen, nicht nur als Wahlkampfversprechen. Er wird nicht müde werden, darauf zu drängen,
bis er am Ziel ist. Er wird kein Lautsprecher sein, sondern durch Taten überzeugen.
Er verzichtet auf vordergründige, populistische Propaganda, verzichtet auf Seilschaften, aber schafft klug ein Netzwerk Gleichgesinnter. Er ist ein Kümmerer, ein Aufrichter.
Jesus war so einer. Er ging zu den Kranken, Schwachen, Ausgegrenzten und gab ihnen neue Lebensqualität. Und er steckte Menschen an, es ihm gleichzutun.
Einer! Es müsste mal einer! Doch ist das nicht zu einfach? Alles auf den einen schieben? Bin ich nicht selber mündig? Kann ich nicht selber den Mund aufmachen für die Schwachen und in Wort und Tat Gottes Gerechtigkeit durchsetzen.
Und es geschieht ja! Wie viele Menschen setzen sich ein mit Projekten und in Organisationen, um aufzufangen, wo das Recht die Menschen im Stich lässt. Wir haben davon so viele, auch in Solingen. Wir haben die Solinger Freiwilligen Agentur,
die Tafel, die Lebenshilfe, Phos, Stifte stiften, Gräfrath hilft, Bunt statt Braun,
die Arbeit der christlichen Kirchengemeinden, die Liste ist noch lange nicht fertig.
Gutmenschen sagen manche despektierlich. Ich glaube, sie brauchen diese Abgrenzung, weil deren Tun sie in ihrer eigensüchtigen Behäbigkeit ganz schön piesackt.
Lassen wir uns nicht ausreden, dass der Einsatz für Gottes Plan sich lohnt. In dem Lied, das wir gleich singen werden, heißt es: Gebrauche deine Kraft. Denn wer was Neues schafft, der lässt uns hoffen. Lässt uns hoffen auf Gottes neue Welt, in der die Gerechtigkeit vom Himmel schaut und bei uns wohnen möchte. Lässt uns hoffen, weil ein klitzekleines Bruchstückchen davon schon unter uns sichtbar und erfahrbar wird. Wenn wir so handeln, sind wir alle Knechte Gottes, Menschen in seinem Dienst, an deinen seine Seele ein Wohlgefallen hat. Die Bischöfin Margot Käsmann sagte in ihrer Abschiedspredigt: Wir brauchen Weltverbesserer. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Ewigkeit. Amen